Am SamViele Besucher von nah und fern.stag, den 14. April 2012 wurde es gegen 15 Uhr in Agendorf am Lutherplatz plötzlich „lebendig". Es fuhren in- und ausländische Autos vor, viele Personen waren zu Fuß unterwegs, einige mit dem Fahrrad, einige kamen in der Agendorfer Tracht – alle hatten ein Ziel: sie wollten gemeinsam den Ereignissen vom April 1946 gedenken – jenem schicksalhaften Tag vor fast genau 66 Jahren, als aus dem kleinen Dorf fast sämtliche deutschstämmige Einwohner vertrieben und somit das komplette Leben des Dorfes verändert wurde.



Blick von der Kanzel.
Die Ehrengäste.Ein trauriges Ereignis war es – alle deutschstämmigen Einwohner von Agendorf wurden aus ihren Häusern getrieben, sie durften nur wenig Gepäck mitnehmen und mussten ihre Heimat verlassen mit ungewissem Ziel. Wohin diese Reise gehen sollte, das wusste damals niemand. Zurück blieb ein stilles und einsames Agendorf fast ohne deutsche Bevölkerung. Die wenigen die zurückgeblieben waren, fielen in eine Art Starre und konnten es lange nicht fassen, was passiert war – auch ihr Leben – genau wie das der Vertriebenen, änderte sich drastisch von einem Moment auf den anderen. Nichts war mehr so wie vorher.

 66 Jahre ist das nun her. Längst haben sich die Vertriebenen eine neue Heimat aufgebaut: der größte Teil in Deutschland, aber auch in Österreich, Frankreich, Schweden, Amerika und Australien haben sich vertriebene Agendorfer ein neues Leben aufgebaut. Trotzdem eine so lange Zeit vergangen ist, denken die Vertriebenen und ihre Nachkommen immer noch an die Zeit in Agendorf zurück – die meisten von ihnen ohne Groll, denn die schönsten Jahre ihres Lebens haben Sie als Jugendliche in ihrem Heimatdorf Agendorf verbracht. Auch die in Agendorf Zurückgebliebenen haben den Tag der Vertreibung nicht vergessen, über all die Jahre sind Kontakte zu den vertriebenen Verwandten und Bekannten bestehen geblieben.

  Pfarrerin Eszter Heinrichs.    Die "Barmixerjugend" der ev. Kirche.    Bürgermeister István Gaál.    Bürgermeister Rainer Houck (Schefflenz).
 
Dass die deutsche Selbstverwaltung von Agendorf auch nach 66 Jahren noch eine so liebevoll gestaltete Gedenkfeier organisiert, das schätzen wir, das Team vom oedenburgerland, sehr! Wir sind sicher, dass mit uns viele Menschen aus Ungarn, Österreich und Deutschland in Gedanken bei uns waren.
 
 
   András Böhm.    Kranzniederlegung.    Magdi Krisch in stillem Gedenken.    Kapelle bei der Kranzniederlegung.
 
 
   Gedenkstein.         Michael Böhm Junior im Interview mit András Böhm.   u.a. Claudia söder, Magdi Krisch und István Gaál.
 
 
Rede zum Jahrestag der Vertreibung 2012 von Eszter Heinrichs:

Sehr geehrte Damen und Herren,

liebe Bürgermeister von Schefflenz und Agendorf,

liebe Gäste von hier und weither!

Heutzutage, wo die Stammbaumforschung eine Renaissance feiert, kommen auch in unser Pfarrbüro immer wieder Menschen, die nach ihren Wurzeln suchen. Unser erstes Gemeinderegister geht in das 17. Jahrhundert zurück. Ab diesem Zeitpunkt wurden bis zum April 1946 viele tausend Namen in die Bücher geschrieben - auch solche, mit denen sich heute nur noch Ahnenforscher befassen. Beispielsweise die Nachnamen Kunst, Schelly. Schranz oder Nolz, die seit der Vertreibung nur noch in der neuen deutschen Heimat erklingen, aber nicht mehr in Agendorf vorkommen.

Victor Hugo sagte einmal:

"Die Vergangenheit ist ein Teil von uns, vielleicht der wichtigste Teil. Was ist ein Baum ohne Wurzeln, und was gut ist ein Fluss ohne Quelle?" Was nützt ein Baum ohne Wurzeln und was ist ein Fluss ohne Quelle?"

Was aber ein Baum ohne Wurzel und ein Fluss ohne Quelle ist, darüber können die Personen am besten Auskunft geben, die 1946 die Heimat verlassen mussten und deren Namen seither in der Ferne erklingen.

Wir wissen wohl, dass in der damaligen ungarischen Propaganda behauptet wurde, dass die Vertriebenen ja eigentlich nur in ihre alte Heimat zurückkehrten, sozusagen „heimgeführt" werden. In Wirklichkeit kamen sie in ein ihnen völlig fremdes Land, deren Bewohner in ihnen Konkurrenten sahen, die ihnen die wenigen noch bewohnbaren Häuser streitig machten. Die Deutschen aus Ungarn kamen in ein Land, dessen Städte in Trümmern lagen, und das schon etwa 10 Millionen Flüchtlinge und Vertriebene aus dem ehemaligen Reichsgebiet und anderen europäischen Ländern eine Heimat geben mussten. Kaum einer nahm in Deutschland die vertriebenen und entwurzelten Menschen mit offenen Armen auf. Es war schwer, alle zu integrieren:

  • Die kleinen Kinder, weil sie ihr Zuhause und ihre Sicherheit von einem Moment zum anderen verloren hatten.

  • Die Kinder im schulpflichtigen Alter, weil sie in einem oft schwer verständlichen Dialekt sprachen und die geschriebene deutsche Sprache zu Hause möglicherweise noch nicht erlernt hatten.

  • Die Erwachsenen und älteren Menschen wiederum mussten schmerzhaft wieder alles von Neuem aufbauen und beginnen, was wir uns heute gar nicht mehr richtig vorstellen können.

Die Vergangenheit ist ein Teil von uns, vielleicht der wichtigste Teil. Was ist ein Baum ohne Wurzeln, und was gut ist ein Fluss ohne Quelle." Ich glaube, ich werde nie jene Frau im rosafarbenen Kostüm vergessen können, die im September zur Kirchweih nach Agendorf zurückkehrte. Wochen, Monate hatte sie sich auf den Kirchweihgottesdienst vorbereitet, auf die Tanzvorführungen, auf das Kommen und Gehen im Dorf. Sie sagte, sie sei jetzt 80 Jahre alt, ihr Mann war vor kurzem verstorben. Sie wusste, dass sie zum letzten Male hier sein würde, dass sie gekommen war, um sich von Agendorf zu verabschieden, welches für sie eine unbeschwerte Kindheit und die vielleicht schönsten Jahre ihres Lebens bedeutete. Sie würde nicht noch einmal wiederkehren, denn sie wäre schon alt. Aber sie wollte sich noch einmal verabschieden von den Menschen, den Häusern, den Orten, und blieb deshalb eine gute Woche bei uns im Dorf. Es war für mich ein bewegendes Erlebnis zu sehen, wie diese alte Dame eine Woche lang gemächlich zu Fuß auf der Hauptstraße spazierte und Abschied nahm von allem und jedem. Für sie war die Vergangenheit wirklich schon zum wichtigsten Teil des Lebens geworden.

Uns in Agendorf ist es heute eine Pflicht, die Erinnerung an unsere Vergangenheit zu pflegen und daraus zu lernen, in die Zukunft zu blicken. Trotz der Tragödie der Vertreibung ist Agendorf in der glücklichen Lage – im Gegensatz zu vielen anderen Ortschaften in der Nähe von Sopron - dass der Sturm der Geschichte nicht jede Wurzel und jede Quelle ausrotten konnte. Manchmal können auch abgehauene Bäume wieder neue Triebe hervorbringen, und Quellen können an neuen Orten wieder hervortreten, wie es im Agendorfer Wald, auf dem Hausberg schon geschehen ist.

In den Agendorfer Kirchenbüchern, dem Taufbuch, Traubuch und Bestattungsbuch, werden wahrscheinlich nie wieder solche Namen Nolz, Kunst, Schranz oder Schelly verzeichnet werden. Dieses Dorf wird die erwähnten Namen und die dahinter stehenden Tragödien aber niemals vergessen. Ohne sie gäbe es das heutige Agendorf nicht.

Ich glaube, dass solange in Agendorf solche Feierlichkeiten und Gedenkfeiern gehalten werden wie am heutigen Tage, solange werden auch wir immer wieder zurückkehren können zu den Quellen und den Wurzeln der abgehauenen Bäume eine Chance geben, neu zu treiben.

Es ist unsere Pflicht zu erinnern, denn „die Vergangenheit ist ein Teil von uns, vielleicht der wichtigste Teil. Was ist ein Baum ohne Wurzeln, und wie gut ist ein Fluss ohne Quelle?"

Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.