Es wäre verantwortungslos, in diesen kursorischen Überblick über die Geschichte des alten Ödenburg auch noch die Ereignisse zwischen 1918 und 1946 pressen zu wollen. Es gibt schon genug verkürzte Darstellungen, die den Anschlusskampf, die Zwischenkriegszeit und die Vertreibung und damit den Untergang des alten Ödenburg auf ein Niveau reduzieren, das der Komplexität des Geschehens in keiner Weise gerecht wird. Noch immer herrscht in vielen Darstellungen der Ereignisse vom Frühjahr 1918 bis Herbst 1921 die Polemik vor. Das ist nicht weiter verwunderlich, denn es ist äußerst schwer, die Verhälnisse in der Stadt zu beschreiben und die vielfältigen Motive, die die handelnden Personen und Gruppen bestimmten, zu erfassen.

Eine Ahnung davon bekommt man, wenn man sich mit der geistesgeschichtlichen, aber auch mit der sozialökonomischen Entwicklung im 19. Jahrhundert genauer beschäftigt. Die Entscheidung für oder gegen den Verbleib der Stadt bei Ungarn wurzelt tief in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts. Es war weniger die soziale Umstrukturierung hin zur Industriegesellschaft, die der Stadt zu schaffen machte, obwohl das rasche Anwachsen der Industriearbeiterschaft und der Belegschaft des Brennberger Kohlebergbaues natürlich manche soziale Probleme schuf. Schlimmer waren der Bedeutungsverlust des alten Handwerks und die Krise des Weinbaues. In der Kombination gewerblicher Tätigkeiten mit eigenem Weingartenbesitz lag ja Jahrhunderte lang die große Stärke, der bescheidene Wohlstand und die geringe Krisenanfälligkeit des Ödenburger Wirtschaftsbürgertums. Der „Bohnzüchter“, der hart arbeitende, sparsame, gottesfürchtige, den kirchlichen Autoritäten voll vertrauende, aber auch gesellige, lebenslustige und selbstbewusste Kleinbürger der Vorstadt geriet in die Defensive. Verzweifeltes Ringen um die bisherige Lebensform, nicht selten Verschuldung und der Zwang, in die wenig geliebte Industiearbeit wechseln zu müssen, waren die Folge. Man könnte einwenden, dass diese Prozesse so oder ähnlich in nahezu allen Kleinstädten der damaligen Zeit abliefen, dass auch dort sich eine neue Oberschicht aus Beamten, Unternehmern, Freiberuflern herausbildete. Das ist natürlich richtig. Auch in Ofen und Pest, in Fünfkirchen und Raab liefen ähnliche Prozesse ab, allerdings zu einer Zeit, in der die weitgehende Magyarisierung der Oberschicht längst im Gang oder schon abgeschlossen war. Eine Besonderheit Ödenburgs war, dass diese infolge der Lage an der österreichischen Grenze und der intensiven Beziehungen zu Österreich erst „verspätet“ ablief und mit dem sozialen Umbruch und der politischen Mobilisierung zusammen fiel.

Die Krise der Stadt, der Hexenkessel Ödenburg zwischen 1918 und 1921, war also äußerst vielschichtig. Zur sozialökonomischen Problematik kam die sprachliche, die geistig-kulturelle Verunsicherung dazu. Nicht vergessen darf man die traumatischen Ereignisse während der wenigen Monate der Räterepublik, in denen Sandor Kellner und seine Genossen in Ödenburg und im Ödenburger Land wüteten und Bauern wie Kleinbürger politisierten und radikalisierten. Die Auswirkungen reichten weit in den Anschlusskampf und darüber hinaus auch zu den „Schattendorfer Ereignissen“ – ein Aspekt, der noch viel zu wenig untersucht ist und auch in der burgenländischen Geschichtsschreibung zu wenig Beachtung findet. Man hatte den „Bolschewismus“ erlebt und wollte nie mehr wieder in einem von den „Roten“ regierten Land leben – ein wichtiges Argument gegen den verarmten Industriestaat Österreich, in dem – wie häufig versichert wurde – der „Umsturz“ kurz bevor stand. Ein schwerer Fehler Österreichs war es ja auch, flüchtende Mitglieder der Räteherrschaft aufzunehmen. Auch der Antisemitismus, den es zuvor in Ödenburg zwar gab, der sich aber auf die wirtschaftliche Komponente beschränkte, lebte in der Rätezeit massiv auf.

Die Anschlussgegner verstärkten oder schufen eine Identität, die der Realität längst nicht mehr entsprach, aber gerne von der zutiefst verunsicherten deutschen Bürgerschaft angenommen wurde: Es war das Bild vom reichen, landwirtschaftlich geprägten Ungarn (im Gegensatz zum hungernden Österreich), das die „rote Gefahr“ erfolgreich abgewehrt hatte, in dem Ruhe und Ordnung herrschten. Und in diesem Ungarn ihre Stadt, das wohlhabende, das kultivierte, das dem ungarischen Staat (dem alten Königreich Ungarn, dem multinationalen und multikonfessionellen und toleranten Ungarn) immer treue Ödenburg. Vor allem aber das „christliche“ Ödenburg, im Gegensatz zum roten, von Bolschewiken und Freimaurern regierten Wien oder Wiener Neustadt: die Geistlichen beider Konfessionen waren die heftigsten Anschlussgegner. Der katholische Klerus war, im Benediktinergymnasium und in den Priesterseminaren entsprechend erzogen, durch und durch proungarisch, mit Bischof Fetzer an der Spitze und mit dem angesehenen Pfarrer, später Domherrn Huber in der Stadt, der einen entscheidenden Einfluss ausübte. Es wäre aber viel zu einfach, den Klerus nur als „magyaronisch“ zu kategorisieren. Die Bauernbuben aus den deutschen und kroatischen Dörfern Westungarns verdankten ihre hervorragende Bildung und ihren gesellschaftlichen Aufstieg dieser Erziehung. Der Weg führte über die ungarische Sprache, verlangte die Loyalität zur ungarischen Nation, nicht aber die Verleugnung der eigenen Herkunft. Noch komplexer war die Position der evangelischen Geistlichkeit. Das evangelische Ödenburg musste ja über Jahrhunderte im katholischen Kaiserhaus den Unterdrücker sehen und fürchtete ein katholisches Österreich (zu Recht, wie dann die Entwicklung vor allem der „Ständestaat“ bewies). Es ist kein Zufall, dass unter den evangelischen Pfarrern viele lokalhistorisch tätig waren und im Anschlusskampf die eigene Vergangenheit entsprechend antihabsburgisch darstellten. Auch die evangelischen Pfarrer wurden - im Lyzeum, an der theologischen Hochschule, „magyarisch“ erzogen, auch sie verdankten ihr Ansehen, ihre Bildung, ihre Akzeptanz in der städtischen Oberschicht dieser Ausbildung und der Loyalität zur ungarischen Staatsidee. Auch sie nahmen den Wandel, den die „ungarische Nation“ inzwischen durchgemacht hatte - von der „Staatsnation“ mit Lebensrecht für die vielen „Völker“ Ungarns hin zur sprachlich - ethnisch homogenen, zur „rein“ magyarischen „Nation“ - nicht zur Kenntnis oder wollten ihn nicht zur Kenntnis nehmen. Der Prototyp dieses proungarischen, zugleich aber durchaus deutschbewussten Pfarrers war Edmund Scholz, Pfarrer von Agendorf-Wandorf-Loipersbach, der eine ähnlich wichtige, vielleicht noch bedeutendere Rolle spielte als auf katholischer Seite Dr. Johannes Huber, mit dem er hervorragend zusammen arbeitete. Er stammte aus der Zips, in deren Städte in seiner Jugend die Magyarisierung schon weit fortgeschritten war, er stammte aus bescheidenen Verhältnissen und wurde dank seiner Ausbildung zum angesehenen, sich seiner herausgehobenen Stellung wohl bewussten Pfarrherrn. Als Abgeordneter der Christlichsozialen (im katholischen Wahlbezirk Mattersburg!) zog er in das ungarische Parlament ein. Er war eifrig publizistisch und organisatorisch tätig und bekämpfte den Anschluss an Österreich mit ganzer Kraft, etwa auch durch seine Reisen nach Deutschland, wo er, wie Huber, für den Verbleib bei Ungarn warb. Seine Argumentation war einsichtig, aber anachronistisch. Viele Ödenburger aber griffen danach wie nach einem Strohhalm, denn sie bot die einzige Möglichkeit, aus dem Dilemma, sich zwischen Staat und Volk entscheiden zu müssen, heraus zu kommen. Man war auch für Ungarn, um das Ungarndeutschtum nicht noch mehr zu schwächen. Seine eigene Gemeinde folgte Scholz nicht mehr, auch in den Dörfern hatte man längst begonnen, über die Sonntagspredigt hinaus zu denken, hatte man erkannt dass die vagen Versprechungen einer kulturellen Autonomie nicht mehr ausreichten. So wie in den übrigen deutschen Stadtdörfern wurde mit großer Mehrheit für Österreich gestimmt. In der Stadt allerdings fiel diese Argumentation durchaus auf fruchtbaren Boden, ein beträchtlicher Teil der deutschen Ödenburger klammerte sich an diese Illusion, obwohl man in den Wochen vor der Volksabstimmung bereits den massiven Terror der magyarischen Nationalisten erleben musste. Etwa jeder zweite Deutschödenburger stimmte für den Verbleib bei Ungarn.

Autor: Michael Floiger