Aus Statistiken früherer Jahre erkennen wir, dass die Bevölkerungszahl Wandorfs immer niedriger war als die in Agendorf oder Harkau. Mit zunehmender Industrialisierung Ödenburgs änderte sich diese Situation sprungartig. Die Bevölkerungszunahme resultierte nicht nur aus einem natürlichen Geburtenüberschuß, sondern auch aus Zuzügen von Auswärts. Die Industrie von Ödenburg brauchte viele Facharbeiter, die aus Österreich und Böhmen hereinströmten. Sie zogen es vor, im nahegelegenen Wandorf zu wohnen, wo Mieten und Bauplätze billiger waren als in Ödenburg. Zu ihnen gesellten sich viele Bewohner aus den Nachbarorten. Aber auch die Entwicklung bei der landwirtschaftlichen Bevölkerung in Wandorf machte Arbeitskräfte frei für die Industrie und Dienstleistungsbetriebe. Viele Bauernwirtschaften schrumpften infolge von Erbteilungen zu Klein- und Zwergbetrieben zusammen, die eine Großfamilie nicht mehr ernähren konnten. Die Abkömmlinge mußten als Arbeiter oder Handwerker ihr Brot verdienen. Soweit sie keinen gewerblichen Beruf ergriffen, kamen sie als angelernte Facharbeiter oder als Hilfskräfte in den Fabriken unter.
Über die Bevölkerungsentwicklung in den einzelnen Gemeinden geben folgende Zahlen Aufschluß:
Gemeinde |
Einwohner |
Zuwachs in % |
|
1784 |
1940 |
||
Wandorf |
831 |
3273 |
294 |
Agendorf |
1103 |
2349 |
113 |
Harkau |
955 |
1023 |
7 |
Wolfs |
624 |
1470 |
136 |
Mörbisch |
709 |
2147 |
203 |
Die Bevölkerungsexplosion zeigte sich auch in der Bevölkerungsdichte (Zahl der Einwohner auf 1 Quadratkilometer). Zwischen 1921 und 1930 erreichte die Bevölkerungsdichte in Wandorf 602,8 Personen. Nach Budapest war dies die zweithöchste von Ungarn.
Der Landesdurchschnitt lag bei 93,4. Zum Vergleich die Nachbarorte:
Agendorf |
194,6 |
Harkau |
99,7 |
Wolfs |
85,1 |
Ödenburg |
277,0 |
In Ungarn gab es, einschließlich Industriezentrum Budapest, 15 Orte mit einer Bevölkerungsdichte von über 500 Einwohner pro Quadratkilometer.
Wandorf liegt weit darüber. In diesem Zusammenhang dürfte es interessant sein, was die ältesten, uns bekannten Volkszählungen ergeben haben:
davon |
||||
in den Jahren |
1715 |
1720 |
Deutsche |
Ungarn |
Fronbauern |
25 |
25 |
25 |
|
Söllner |
11 |
11 |
2 |
9 |
1784/85 |
1785/86 |
|
Zahl der Häuser |
108 | 108 |
Zahl der Familien |
183 | 177 |
Beschäftigung |
||
Pfarrer |
15 | 14 |
Adlige |
3 | 3 |
Handwerker |
23 | 21 |
Fronbauern |
50 | 50 |
Deren Erben | 59 | 60 |
Söllner und Hulden |
122 | 108 (meist i. d. Landw.) |
Sonstige Beschäftigte |
29 |
Weitere Einwohnerzahlen aus den Jahren:
1829 |
1869 |
1900 |
1920 |
1930 |
||
Einwohner |
797 |
1268 |
2225 |
2995 |
3173 |
|
Davon |
Deutsche |
797 |
1268 |
2058 |
2640 |
2909 |
Ungarn |
- |
- |
136 |
327 |
255 |
|
Slowenen |
- |
- |
22 |
8 |
4 |
|
Kroaten |
- |
- |
5 |
16 |
4 |
|
Sonstige |
- |
- |
4 |
4 |
1 |
Der deutliche Anstieg ungarischer Einwohner ist auf die zunehmenden Madjarisierungsbestrebungen des ungarischen Staates zurückzuführen. (Näheres über Bevölkerungsstatistik bei Ignac Acsady: Ungarns Bevölkerung in der Zeit der "Pragmatischen Sanktion", Mgy. Statistikai Köz- lemenyek X. Band, Budapest 1896 und bei Thirring Gusztav: Die ungarischen Volkszählungen unter Josef 11., Magy. Stat. Szemle 1931, Jahrgang IX, Nr. 2).
Augenfällig ist der große Bevölkerungsanstieg zwischen 1869 und 1900. Die Zahl der Einwohner hat sich fast verdoppelt! Eine der Hauptsorgen der Gemeinde dürfte deshalb die Beschaffung von Bauplätzen gewesen sein, die nie befriedigend gelöst werden konnte und mit der ständigen Überbelegung von Wohnräumen einherging. Es gab damals keinen staatlich gelenkten Wohnungsbau, wie wir ihn heute kennen. Die von der Industrialisierung unmittelbar oder mittelbar betroffenen Gemeinden mußten mit dem Problem selbst fertig werden. Das neue Arbeiterpotential war nun existentiell von den Fabriken in Ödenburg abhängig.
Die Anfänge von Fabrikgründungen gehen zurück bis in das Jahr 1794. Damals gründete ein Graf Saurau eine Glashütte in Ödenburg. Im gleichen Jahr wurde in der Neustift-Gasse eine Zuckerfabrik eröffnet. Ein Sachse brachte die erste Strumpfstrickwerkstatt nach Ödenburg. Man gründete Kalkbrennereien und Ziegeleien. Ein wesentlicher Faktor für die Betriebsgründungen war die Ödenburger Sparkasse, die im Jahre 1842 ihre Betätigung aufnahm. Desgleichen die Gründung bzw. der Bau einer Eisenbahnlinie zwischen Wien und Ödenburg im Jahre 1847. Doch diese ersten wirtschaftlichen Impulse berührten die Wandorfer Bevölkerung, die damals noch überwiegend von der Landwirtschaft lebte, noch nicht. Aber nach der Bevölkerungsexplosion von 1870 bis 1900 begrüßte man die Filialgründungen österreichischer Firmen, die sich -vermutlich das große Arbeiterpotential im Auge- an der Gemarkungsgrenze von Wandorf niederließen.
Im April 1896 wurde im Gewann Weißenbachäcker die Ödenburger Brauerei und Malzfabrik AG. gegründet. Unweit von dieser Firma, im Jahre 1910, hat die Eisengießerei, ein Ableger der Ödenburger-Grazer Eisenwarenfabrik, ihre Pforten geöffnet. Sie hat bis zum 2. Weltkrieg über 1.000 Personen beschäftigt. Diese Fabrik war auch Zulieferfirma der am 14. November 1901 gegründeten Eisenwarenfabrik der Grazer Eisenwarenfirma, wo Spezialanfertigungen von Tür- und Fensterbeschlägen, sowie Eisenbahnwaggons hergestellt wurden.
Neben der Eisenwarenindustrie entstanden auch Textilfirmen. In der Nähe von Wandorf hat die Wiener Firma Philipp Haas u. Co. im Jahre 1909 die Ödenburger Teppichfabrik installiert. Die Baumwollweberei (pamutipar) hat die Firma Preis u. Co. im Jahre 1922 nach Ödenburg verpflanzt. Diese Branche wurde dann im Jahre 1934 durch die Ödenburger Kammgarnspinnerei erweitert.
Der Bergbau von Brennberg und die Forstwirtschaft erhielten durch die Gründung der Hochschulfakultäten für Bergbau-Hüttenwesen und Forstwirtschaft im Jahre 1934 eine bedeutende Bereicherung. Sie kamen von Selmecbánya, das 1919 durch den Trinanoner Vertrag an die Tschechoslowakei abgetreten werden mußte. Die Hochschule besaß eine alte technisch-wissenschaftliche Büchersammlung, die wissenschaftliche Werke ab dem 16. Jhdt. ihr Eigen nannte. Nach der Vertreibung der Deutschen erhielt sie im Jahre 1957 einen neuen Ausbildungszweig für die Holzverarbeitung.
Die Arbeiter von Wandorf fanden in diesen Arbeitsstätten Arbeit und Brot. Da die meisten Arbeitgeber aus Österreich kamen, empfanden die Wandorfer nicht den ungarischen Staat als "Brötchengeber", sondern das angrenzende Österreich, wo auch viele arbeitslose Handwerker ihren Lebensunterhalt verdienten. Hinzu kamen noch die vielen, insbesondere aus Wien, Erholung suchende "Sommerfrischler", die sich bei den Hausbesitzern die ganze Ferienzeit über einmieteten.
Diese wirtschaftlichen und persönlichen Bindungen zu Österreich bestimmten auch das Gefühlsleben der Wandorfer, das sie stets durch den Spruch zum Ausdruck brachten: "Es gibt nur ein Wandorf und ein Wien", womit sicher auch die verwandte Gemütslage zu den Wienern reflektiert wurde.
Der Frohsinn und die Neigung zum Vergnügen hatten in Wandorf schon eine lange Tradition. Davon zeugten auch die vielen Besucher aus Ödenburg und den Nachbarorten in den fröhlich-heiteren Gaststätten von Wandorf, in denen an Wochenenden flotte Tanzmusik für Stimmung sorgte.
Die strukturellen Veränderungen in der beruflichen Zusammensetzung der Einwohner von Wandorf haben den herkömmlichen, heiteren Charakterzug der Wandorfer nicht abgestumpft. Die faktische Macht der Tradition, die Liebe und die Pflege zum Brauchtum hat auch die "Zugezogenen" in ihrem Bann gehalten und ihnen die völkische und kirchliche Eingliederung erleichtert. Wer sich diesem Bann entzog, machte sich selbst zum "Zaungast" der Gesellschaft.
Die veränderte Situation zeigen auch die Beschäftigungszahlen aus dem Jahre 1930:
Von der Landwirtschaft lebten nur noch 22,1%, von der gewerblichen Wirtschaft dagegen 48,6%. Die Zahl der Verdiener stieg auf 1.330 Personen, davon waren 325 Frauen. Der Grund für die verhältnismäßig große Zahl der Verdiener war, dass auch Kinder frühzeitig ins Erwerbsleben eingeführt wurden. Frauen waren insbesondere in der Textilbranche zahlreich beschäftigt. Der Fremdenverkehr, als dritte Säule der Wirtschaft, hat in den 30er Jahren bedeutend zugenommen, was die folgenden Zahlen aufweisen: Die Erholungsuchenden Fremden waren 1935 mit 480 Personen registriert. Im Jahre 1937 haben sich mit Familienangehörigen 490 Personen als "Sommerfrischler" in Wandorf eingemietet. (Sümeghy-Rozsondai).
Diese wirtschaftlichen Fakten zeigen, wie sehr Wandorf von Österreich abhängig war und erklären auch die völkische und politische Sympathie für Österreich, mit deren Bevölkerung sie sich sprachlich und abstammungsmäßig verwandt fühlten. Vielfach unsympathisch und als Belästigung empfanden die Wandorfer dagegen die Madjarisierungsbestrebungen des ungarischen Vaterlandes, dessen Behörden und Beamte die völkische Bekehrung der Deutschen für wichtiger hielten, als die wirtschaftliche Stabilisierung der Lebensverhältnisse in dieser Grenzregion.
Wandorf war eine typische Arbeiterwohngemeinde und war insofern mit ihren von der Landwirtschaft geprägten Nachbarorten nicht vergleichbar. Als Arbeitnehmer waren viele Wandorfer abhängig vom dem Ungarntum verfallenen Mittelstand Ödenburgs oder vom Staat als Arbeitgeber und somit dem Madjarisierungsdruck viel mehr ausgesetzt als die Bewohner anderer Ortschaften.
In Zeiten der wirtschaftlichen Rezession nach dem 1. Weltkrieg waren Teile der Bevölkerung wegen dauernder Arbeitslosigkeit gezwungen, Fähigkeiten zu entwickeln, die ihnen das Überleben garantierten. So entdeckten viele den Wald als Erwerbsquelle, wo sie Pilze, Beeren, Blumen und andere Früchte des Waldes sammelten und in Ödenburg am "Markt" feilboten. Andere wagten den gefährlichen Schritt zum Schmuggel über die nahe Grenze zu Österreich. Viele Kriegerwitwen waren dazu gezwungen, da sie von der lächerlich niedrigen Kriegsrente nicht leben konnten. "Tabakrente" nannte man diese Witwenrente verächtlich, weil man dafür gerade ein Päckchen Tabak kaufen konnte. Die Wandorfer zeigten Verständnis für die Schmugglertätigkeit, denn sie wußten, dass sie aus der Not geboren wurde. Diese Solidarität mit den Schwächeren war ein wesentlicher Charakterzug der Wandorfer.
Das Grenzgebiet zu Österreich mit den dicht bewaldeten Berghügeln und versteckten Grenzpfaden erforderte eine gründliche Geländekenntnis und viel Mut für die Ausübung der Schmugglertätigkeit, die wegen der strengen Grenzwachen nur nachts betrieben werden konnte. Voraussetzung für die Tätigkeit war das gravierende Preisgefälle bei gewissen Verbrauchsgütern zwischen Österreich und Ungarn. Eines dieser Güter war der Zucker, der in Österreich wesentlich billiger als in Ungarn gekauft werden konnte. Obwohl der Rohstoff für den Zucker, die Zuckerrübe, in Ungarn angebaut wurde, ist sie zu Billigstpreisen nach Österreich exportiert, dort zum fertigen Zucker verarbeitet und teuer eingeführt worden. Bei den Wandorfern besonders begehrt war der Süßstoff "Sacharin", der zur Einsparung des teuren Zuckers verwendet wurde und so zur Linderung der materiellen Not zwischen den beiden Weltkriegen beigetragen hat. In die umgekehrte Richtung, nämlich von Ungarn nach Österreich, wurden Weine und Rinder geschmuggelt, von österreichischen Bürgern selbst betrieben, die beim laschen Grenzdienst der österreichischen Grenzwachen kein besonderes Risiko eingegangen sind.
Quelle: Wandorf - Geschichte und Entwicklung
Die Geschichte und Entwicklung eines ehemaligen Stadtdorfes Ödenburgs
Hans Degendorfer , Matthias Ziegler (1991)
Die Geschichte und Entwicklung eines ehemaligen Stadtdorfes Ödenburgs
Hans Degendorfer , Matthias Ziegler (1991)