Heimweh nach Ungarn

„Hör ich Cymbalklänge, wird ums Herz mir enge. Süßes Land der Muttersprache, Heimatland!“

Nirgends klingt Heimweh herzzerreißender als in einer Operette von Franz Lehár. Mit seinen feurigen Csárdás-Klängen und romantischen Liebesliedern weckt Lehár das Fernweh nach dem Ungar Land. Doch nichts ist vergleichbar mit der abgrundtiefen Sehnsucht der Heimatvertriebenen.


Das Volk entscheidet

So erging es Familie Geiszler, die in Rust ein Zuhause fand, aber ihre Heimat blieb Balf, jenseits der Grenze. Eigentlich wäre Balf 1921 an das Burgenland übergegangen, aber die Ungarn kämpften verzweifelt gegen die Abtretung von Deutsch-West-Ungarn an Österreich um jedes Stück Land. Sie erzwangen eine Volksabstimmung in der Hauptstadt Ödenburg und in acht umliegenden Gemeinden. Eine davon war Balf, wo sich die mehrheitlich deutschsprachige Bevölkerung für Österreich entschied. Doch der Mehrheitsbeschluss fiel zugunsten Ungarns aus.

Der Verlust der Heimat

Balf, heute ein Weinort als Ortsteil von Sopron und vor allem bekannt durch sein Heilwasser, war schon in früheren Zeiten ein Stadtdorf von Ödenburg. Wolfgang Bachkönig war mehr als 20 Jahre Fachbereichsleiter für Öffentlichkeitsarbeit bei der Landespolizeidirektion Burgenland und arbeitete in einem Team als Pressesprecher für den damaligen Landespolizeidirektor Hans Peter Doskozil. In dieser Funktion pflegte er viele Kontakte zur ungarischen Polizei und kommunizierte unter anderem auch über die einst durch den Eisernen Vorhang hermetisch abgeriegelte Grenze zu Österreich. Dies nahm er zum Anlass, sich mit Ungarn historisch näher zu befassen. Er erzählt, wie es dazu gekommen ist, dass seine Großeltern aus Ungarn ausgewiesen wurden.

Familie Geiszler hatte bei einer Umfrage Ende der Zwanzigerjahre als Muttersprache Deutsch angegeben. Dies wurde ihnen unter anderem 1946 zum Verhängnis, als die Volksdeutschen aus Ungarn vertrieben wurden. Oma Theresia, Opa Paul und Mutter Theresia Geiszler, mussten über Nacht ihr Heimatdorf verlassen und zwei Häuser und etwa zwei Hektar Ackerland zurücklassen. Kurz bevor sie mit nahezu allen anderen Dorfbewohnern abtransportiert wurden, schlachteten sie noch rasch ein Schwein und wickelten das Fleisch in ein Leintuch, als Teil ihres Gepäcks, das nicht mehr als 50 kg wiegen durfte. Die Familie wurde vorerst nach Ödenburg und von dort gemeinsam mit den anderen Vertriebenen mit dem Zug außer Landes gebracht.

Für die Geiszlers ging die Reise in einem Viehwaggon weiter nach Bamberg. In Oberfranken begann für die ehemals gutsituierten Bauern ein neues Leben. Um zu überleben, mussten sie für das tägliche Brot arbeiten, bekamen in einer zerbombten Schule ein karges Lager als Schlafstätte zugewiesen, und litten unsagbar unter Heimweh. Sie waren so verzweifelt, dass sie 1949 mitten im finstersten Kommunismus versuchten, wieder in ihre Heimat zu gelangen. Doch, was sie nicht wussten, war, dass der stalinistisch gesinnte Ministerpräsident Mátyás Rákosi die Grenze dicht gemacht hatte. Nach Deutschland wollten sie auf keinen Fall mehr zurückkehren und so entschieden sie sich in Rust zu bleiben. Nach dem Ende des stalinistischen Terrorkurses stand die Grenze zumindest für Familienbesuche wieder offen. Der politische Kurs des Gulaschkommunismus nach dem Motto des Ministerpräsidenten János Kádár: „Wer nicht für mich ist, ist gegen mich“, eröffnete trotz aller Repressalien gegen das eigene Volk eine Fülle von neuen Möglichkeiten. Diese Zeit der vorsichtigen Grenzöffnung nützten Oma Geiszler, Mutter Theresia und einige andere Familienmitglieder, um die Verwandten in Balf zu besuchen. Omas Schwager, ein Schlossermeister, hatte es irgendwie geschafft, nicht ausgewiesen zu werden, und in der Heimat zu bleiben.

Packerlsuppen gegen Frischfleisch

Wie in alter Zeit wurde reger Tauschhandel betrieben. In der Familie des Schlossermeisters waren Packerlsuppen, klebrige Fliegenfänger und Kleidungsstücke aus Österreich sehr beliebt. Umgekehrt fuhren die Ruster Verwandten mit vollen Taschen heim. Sie waren gefüllt mit frischen Eiern, Fleisch und Gemüse. Als junger Spund bekam Wolfgang Bachkönig einmal kurz vor Weihnachten zwei frisch geschlachtete Hühner geschenkt. Leider kamen sie am Weihnachtstisch nie an, denn bei der Einreise nach Österreich wurde er an der Grenzübertrittstelle Sopron-Klingenbach von den Ungarn einer strengen Kontrolle unterzogen. Die toten Tiere durften nicht nach Österreich „einreisen“. Sein Versuch, sie an den Grenzbeamten zu verschenken, scheiterte an dessen Unnachgiebigkeit. Wolfgang Bachkönig wurde zurückgeschickt, um die Hühner loszuwerden. Um rasch heimzukommen, verschenkte er sie an der nächstbesten Straßenkreuzung in Sopron an eine alte Frau, die auch nicht gerade begeistert davon war.

Der Enkel bringt seinen Großvater heim

Der Einzige, der sich weigerte, nach Ungarn auf Besuch zu fahren, war der Großvater. Er war nahezu gebrochen vor Heimweh, denn er konnte nicht verwinden, dass man ihm sein Hab und Gut „geraubt“ hatte. Mit 76 Jahren besann er sich plötzlich anders.

Er fuhr nach Balf, konnte aber sein eigenes Haus nicht betreten und nur von außen sehen. Trotzdem fühlte er sich glücklich und weigerte sich vorerst standhaft, die Heimat abermals zu verlassen. Sein Enkel, Wolfgang Bachkönig, damals noch in der Gendarmerieschule in Ausbildung, fuhr nach Ungarn, um seinen Großvater zurückzuholen. „Es war sehr schwer ihn zu überzeugen“, erzählt Wolfgang Bachkönig, „aber schließlich besann sich der Großvater und gab nach“.


Wie es seinen Großeltern sowie seiner Mutter im Innersten erging, war für Wolfgang Bachkönig nur schwer abzuschätzen, denn sie hatten über ihre Heimatvertreibung nicht gern gesprochen. Sie unterhielten sich immer in ihrer deutschen Muttersprache, doch wenn sie Gespräche führten, die andere nichts angingen, verwendeten sie Ungarisch als „Geheimsprache“.

In Rust haben sie sich mit viel Fleiß und Entbehrungen eine neue Existenz aufgebaut, jedoch keine Heimat gefunden. Rust war Zeit ihres Lebens „nur“ ihr Zuhause.