Eine aufmerksame Leserin unserer Website ist Frau Kristzina Kaltenecker, von Beruf Historikerin, die sich derzeit im Zuge ihrer Dissertation mit der Geschichte des ehemaligen Pfarrers Robert Danielsz beschäftigt. Aus diesem Grunde hat sie sich unsere Seiten über Harkau ganz besonders gut angeschaut. Unser Landsmann, Andreas Schindler, hat in den 80er Jahren das Heimatbuch über Harkau geschrieben (Hier der Artikel über die "Abtrennung des Burgenlandes"), das wir mit seiner freundlichen Genehmigung hier veröffentlichen durften. Frau Kaltenecker hat uns freundlicherweise eine interessante Ergänzung/Berichtigung dazu geschickt, wofür wir ihr auch an dieser Stelle ganz herzlich danken!
Krisztina Kaltenecker:
Die Anordnung der Vertreibung der Deutschen aus Ungarn[1]
Die mit Zustimmung der Alliierten Kontrollmächte zwischen 1946 und 1948 durchgeführte Zwangsaussiedlung ist als organisierte massenhafte Vertreibung der Deutschen aus Ungarn aufgrund der Kollektivschuldthese geplant, vorbereitet und angeordnet worden.
Obwohl die Zwangsaussiedlungsverordnung erst im Dezember 1945 veröffentlicht wurde, war die pauschale Abstempelung der ungarndeutschen Minderheit als „Landesverräter” und „Volksfeinde” seit dem Ende des Zweiten Weltkrieges sowohl in den offiziellen und inoffiziellen Regierungserklärungen als auch in der Presse und Öffentlichkeit ein weit verbreitetes politisches Schlagwort. Die verschiedenen Verordnungen der provisorischen National- und später der Tildy-Regierung gingen von der angeblichen Kollektivschuld der Deutschen aus. Die ungarischen Regierungen achteten allerdings auf die Bewahrung einer Scheindifferenzierung zwischen „Faschisten”, „Landesverrätern”, „Volksfeinden” und den wenigen Entlasteten. In der verordnungsgebenden Praxis wurde die Volksbundmitgliedschaft im allgemeinen, die Wiederbenutzung der deutschen Familiennamen und sogar das wahrheitsgemäße Bekenntnis zur Sprache und Nationalität in der Volkszählung von 1941 als „Verbrechen gegen das Volk” verurteilt. Daraus wird das tatsächliche Ziel der ungarischen Regierungen deutlich: nämlich nicht Entnazifizierung, sondern Vertreibung. Die Regierungen erblickten in der Deutschenvertreibung das Universalmittel, mit dessen Hilfe die brennenden Probleme Nachkriegsungarns zu lösen seien.
Sich auf die beschränkte Souveränität Ungarns berufend verschwiegen die Regierungspolitiker der Öffentlichkeit gegenüber ihre Initiative und behaupteten, dass sie keinen Handlungsspielraum bei den Entscheidungen für die Zwangsaussiedlung gehabt hätten. Sowohl die Sowjetunion als auch die USA protestierten gegen diese Versuche, die alliierten Kontrollmächte für die organisierte Deutschenvertreibung verantwortlich zu machen. In der Wirklichkeit führte gerade der Handlungsspielraum, nämlich die Wahlmöglichkeit zwischen der massenhaften und der vollständigen Zwangsaussiedlung, zum Dissens unter den Regierungsparteien: Für die unverhohlen vollständige Deutschenvertreibung nahmen 1945 in dem von der Sowjetunion besetzten und zur Zuständigkeit der sowjetisch geleiteten Alliierten Kontrollkommission gehörenden Ungarn die „Hardliner“ der Nationalen Bauernpartei (Imre Kovács) und der Ungarischen Kommunistischen Partei (Imre Nagy) Stellung. Ihre Forderung wurde als der Befehl der Sowjetunion oder als der verpflichtende gemeinsame Wille der Alliierten Kontrollmächte propagiert. Bis in den Dezember hinein waren allerdings die Politiker der Unabhängigen Kleinlandwirtepartei und die Sozialdemokraten, im Einklang mit der Ansicht der USA, für die lediglich massenhafte Zwangsaussiedlung. Im Januar 1946 trat die Frage, ob die Alliierte Kontrollkommission oder die ungarische Regierung für die „möglichst ordnungsgemäße und humane Durchführungsweise” verantwortlich sei und deswegen sie zu gewährleisten habe, anstelle des Dilemmas der vollständigen oder massenhaften Zwangsaussiedlung.
Die ungarische provisorische Nationalregierung war entsprechend dem „vorläufigen Prinzip der juristisch verdeckten und partiellen Lösung” bestrebt, die organisierte Zwangsaussiedlung im internationalen Rahmen und mit Zustimmung der Alliierten Kontrollmächte in Gang zu setzen. Zwar schließen die Regierungspolitiker die vollständige Vertreibung für einen späteren Zeitpunkt nicht aus, hielten sie aber die sogenannte „radikalste Lösung der Schwabenfrage” vorübergehend für untragbar. Ungarn konnte die ethnische Vertreibung aus Rücksicht auf die ungarischen nationalen Minderheiten außerhalb des Landes nicht forcieren. Hier hätte die Gefahr bestanden, dass die tschechoslowakische oder rumänische oder jugoslawische Regierung nach demselben Muster gehandelt hätten, diesmal zu Lasten der Auslandsungarn. Um die vollständige ethnische Vertreibung in der Theorie zu vermeiden, war die Ausnahme der „Entlasteten” notwendig. Dass die Ausnahme der „Entlasteten” praktisch nicht justiziabel war, sondern der Willkür Tür und Tor öffnete, steht auf einem anderen Blatt. Das Dilemma der massenhaften oder vollständigen Deutschenvertreibung konnte auf Grund des Potsdamer Beschlusses vom August 1945 nicht entschieden werden. Die ungarische provisorische Regierung verhielt sich weiterhin taktisch abwartend, um sich beide Optionen offen zu halten. Der Mindestumfang der organisierten Vertreibung, die massenhafte Zwangsaussiedlung, bildete lediglich den vorläufigen Konsens der Regierungsparteien. Die Ersetzung der Kategorie „Förderer von hitleristischen Organisationen” (Verordnung Nr. 3.820 / 1945 MP.) mit der Umschreibung „er hat den Hitlerismus entweder mit Worten oder mit Taten unterstützt” legte im November 1945 den Grund zur Verurteilung jener Personen, die sich 1941 zu ihrer deutschen Nationalität bekannt hatten genauso, wie zur Ausbürgerung, Enteignung und Ausweisung derjenigen, die in der letzten Volkszählung das Deutsch als Muttersprache angegeben hatten.
Ursprünglich strebte auch die Tildy-Regierung eine Regelung an, die nur scheinbar differenziert hätte. Tatsächlich wären die zu vertreibenden willkürlich bestimmt. Das Scheitern der Verhandlungen mit der Tschechoslowakei (3.-6. Dezember 1945) trug am maßgeblichsten zum Taktikwechsel bei: Ab Ende Dezember 1945 ging es in die umgekehrte Richtung: Zwar wurde die restlose und vollständige Zwangsaussiedlung angeordnet, Innenminister Imre Nagy erhielt aber die Anweisung, eine vom Geist der Grundverordnung abweichende, mildere Durchführungsverordnung zwecks Absicherung einer größeren Anzahl von Ausnahmen auszuarbeiten. Er veröffentlichte die Durchführungsverordnung jedoch mit einer Einschränkung, die der Anteil der „Unschuldigen” auf absurde Weise administrativ vorschrieb. Dadurch gewann wieder einmal nicht die Prüfung der individuellen Schuld an Bedeutung, sondern die eventuelle Anerkennung der Unschuld der Einzelpersonen.
Vor allem die Absurdität und Widersprüchlichkeit dieser Regelungen machten die Deutschenvertreibung zwangsläufig zum neuen Schlachtfeld im Machtkampf der Unabhängigen Kleinlandwirtepartei und der Kommunisten. Maßgeblich wurde die Vertreibung vom Innenministerium vorbereitet und durchgeführt. Ihm war die wichtigste Abwicklungsinstanz, das Volksbetreuungsamt, untergeordnet. Dieses Ministerium setzte auch die Regierungskommissare als „Regierungsbeauftragte für die Zwangsaussiedlung” ein, die den örtlichen Behörden gegenüber weisungsbefugt waren. Die Kommunistische Partei konnte 1945 ohnehin viele Schlüsselpositionen der inneren Verwaltung für sich sichern. Nun erhielten die Kommunisten mit der Durchführung der „Aussiedlungsverordnung” ein antirechtstaatliches Machtmittel in die Hand. Die Rechtstaatlichkeit wurde durch den Entstehungsprozess der Zwangsaussiedlungsverordnung erschüttert.
Die für die Zwischenkriegszeit charakteristische Hypostasierung der deutschen nationalen Minderheit in ihrer Beziehung zur Staatsnation wurde 1945 nachträglich umgedeutet, als ob darin „deutsch“ mit „nationalsozialistisch“ und „ungarisch“ mit „demokratisch“ stets gleichbedeutend gewesen wären. Die Vertreibung wurde durch eine ideologisch-politische These vorbereitet, nach der die ungarndeutsche Minderheit über die Jahrzehnte und Jahrhunderte hinweg kontinuierlich eine verheerende Rolle in der ungarischen Geschichte gespielt habe. Trotz wiederholter Proteste von Seiten der Katholischen Kirche und der demokratischen Intelligenzler hielten die ungarischen Regierungen an ihrer Vertreibungsabsicht fest und ließen die Warnungen, dass ihre Praxis der Judenverfolgung ähnelte, völlig unbeachtet. Innenpolitisch sollte die massenhafte Abstempelung der Deutschen als „Vaterlandsverräter” und „Volksfeinde” zum staatlichen Erwerb von Häusern und Boden führen, um den Feldhunger des ungarischen Landvolkes zu stillen und die Basis zur schnellen Aufnahme der ungarischen Flüchtlinge zu schaffen. Auf die Volkswirtschaft wirkten sich bereits die für das „Provisorium” (das heißt zwischen dem Ende des Zweiten Weltkrieges und Dezember 1945) spezifischen massenhaften Zwangsmaßnahmen (Beschlagnahme und Internierung, Zwangszusammenziehung, Ausquartierung, Einweisung) katastrophal aus. Die nur scheinbar legale Vertreibung beraubte Ungarn traditioneller Lebensformen, Arbeits- und Wohngemeinschaften.
Außenpolitisch bediente sich die ungarische Regierung ebenfalls mit der These der historischen Kontinuität des angeblich verheerenden Einflusses der ungarndeutschen Minderheit. Damit sollte die Verantwortung und die Rolle Ungarns im Zweiten Weltkrieg auf Kosten der eigenen deutschen Minderheit herabgespielt werden. Die Regierung stilisierte Ungarn als Opfer, um rhetorisch eine Schicksalsgemeinschaft zwischen Ungarn und seinen Nachbarländern (hier vor allem mit der Tschechoslowakei) zu begründen. Das so erweckte Solidaritätsgefühl sollte Ungarn aus der völligen Isolation herausführen. Dieses politische Kalkül ging jedoch nicht auf.
Die auf der Kollektivschuldthese basierende Anordnung der vollständigen Zwangsaussiedlung der Deutschen aus Ungarn beeinträchtigte die politische Position der ungarischen Regierung im Verhältnis zu der Tschechoslowakei und anderen Nachbarländern: Dort sahen sich die ungarischen Minderheiten nunmehr ebenfalls mit der Kollektivschuldthese konfrontiert, diesmal freilich mit umgekehrtem Vorzeichen. Die Geister, die die ungarische Regierung gegen die deutsche Minderheit rief, wurde sie nun selbst nicht wieder los.
Die Zahl der aus Ungarn durch die Zwangsaussiedlung zwischen 1946 und 1948 vertriebenen Deutschen betrug nach den Angaben des Volksbetreuungsamts insgesamt etwa 185.000, wovon rund 135.000 Personen in den Jahren 1946/1947 in der amerikanischen Besatzungszone Deutschlands aufgenommen wurden. Die Anzahl der 1947/1948 nach Ausbürgerung und völliger Enteignung in die sowjetische Zone Deutschlands transportierten Ungarndeutschen wird auf circa 50.000 beziffert (Sándor Balogh). Durch diese Art der Vertreibung ging insgesamt 248.600 Katastraljoch Boden in den Besitz des ungarischen Staates über. Die Ungarndeutschen besaßen im Jahre 1941 etwa 60.400 Häuser. Davon wurden zwischen 1945 und 1948 rund 44.750 Immobilien (das heißt 74,1%) staatlich beschlagnahmt (Ágnes Tóth).
[1] Kaltenecker, Krisztina: Das Dilemma der massenhaften oder vollständigen Zwangsaussiedlung der Deutschen aus Ungarn. Die Entstehungsgeschichte der Regierungsverordnung Nr. 12.330 / 1945 MP. In: Müns, Heike (Hg.): Jahrbuch für deutsche und osteuropäische Volkskunde. Band 44(2001). N. G. Elwert Verlag. Marburg 2001, S. 35–97.