Brennberger Strasse 1971Im Magazin "Evangélikus Élet (Evangelisches Leben) erschien am 21.2.2016 der folgende Artikel, der auch über die Jahre nicht an Wichtigkeit verloren hat. Vielen Dank an Feri Tauber, der sich die Mühe gemacht hat, ihn für die deutschsprachigen Leser des oedenburgerlandes zu übersetzen!

 

 

'56-er Erinnerungen von Pfarrerkindern aus der westlichsten Grenzgegend

Ein Haufen von alten Erinnerungen kommt in Vertretern der älteren Generation auf, die in der Nähe der westlichen Staatsgrenze, jahrzehntelang in unmittelbarer Nachbarschaft zum Eisernen Vorhang gelebt hatten, wenn sie das Wort „Migrant” oder „Einwanderer” hören. Durch den Anblick der dahinziehenden Massen, die Aufnahmen, die von ausgelieferten Flüchtlingen und jenen berichten, die sich in der Hoffnung auf ein besseres Leben auf den Weg gemacht hatten, werden in vielen Geschichten aus Zeiten vor fast sechzig Jahren heraufbeschwört. In den Gesprächen mit den einstigen Zeitzeugen wurden auch in Geschichtsbüchern nie beschriebene Details der Ereignisse des Jahres 1956 erwähnt.

Sie erzählten, wie die an der Grenze Lebenden den nach Grenzenlosigkeit Strebenden über die streng bewachte Staatsgrenze geholfen hatten. Es wurde auch erzählt, dass die Wege sowohl im Winter '56 wie auch '57 genauso voll von den nach Westen Ziehenden waren. Und auch darüber, warum es so war, dass einige doch geblieben sind. Von vielen wurden auch die damaligen Seelsorger mit Hochachtung erwähnt, die geblieben sind, obwohl sie auf der anderen Seite der Grenze mit offenen Armen erwartet worden wären. In unserer Zusammenstellung werden die ‚sechsundfünfziger‘ Erlebnisse der Kinder der ab den 50-er Jahren in den Soproner Stadtdörfern ihren Dienst ausübenden evangelischen Pfarrer – Foltin, Brunó und Weltler, Ödön – nachvollzogen.

Dr. Foltin, Brunó 

Die Abschiedspredigt von Bruno Foltin am 01. Oktober 1989 in Wandorf.Ich war fünfeinhalb Jahre alt… Der Winter ’56 war ebenso rigoros hart, windig und an Schneeverwehungen reich wie es in meiner Kinder- und Jugendzeit alle Winter waren. Mein Vater, Foltin Brunó war Seelsorger in Wandorf [Sopronbánfalva]. Das Pfarrhaus – in dem wir mit meinen Lázár-Großeltern, meinen Eltern und meinen vier Schwestern zu neunt gelebt hatten – war das letzte Gebäude Richtung Agendorf, an der westlichsten Grenzzone von Ungarn, es stand auf einem immer unter Wind stehenden Hügel, in der Lomb utca. Am wärmsten im Haus war es immer in der Küche, so tummelte ich mich auch immer an der Seite der Lázár-Großmutter herum, die ständig bezaubernde Düfte dort hervorzauberte. Zur Unterhaltung stellte ich noch ein Hockerl ans Küchenfenster und guckte von da aus im Knien nach draußen. Ich sah die Äcker um das Haus herum, die in den Gartenzaun gepflanzten riesigen Pappeln; ich beobachtete, wie sie sich beugten, wie die Schneeflocken herumwirbelten.

Eines Tages erblickte ich Schatten zwischen den Schneeflocken, die auf dem Weg nach Agendorf [Ágfalva] waren. Und es wurden immer mehr. Sie zogen nicht mehr nur die Lomb utca entlang, sondern, auch die Felder vor und neben uns. In schwarze, schwere Wintermantel gekleidete Männer, mit Stiefeln, Mützen mit Ohrenklappen; Frauen, in große, schwarze Tücher gehüllt; Kinder und alte Leute, die sich beim Bewegen schwer taten, wanderten – indem sie alle Schneehaufen und das ganze Geröll niedertrampelten – Richtung Agendorf, gen Westen.

Es gab unter ihnen auch Pferdewagen, die mit Kisten, mit in Leintücher gewickelten Bündeln bis zum Übergehen vollgeladen waren, diese blieben ab und zu im verschneiten Geröll stecken. Da wurden sie geschoben und gezogen, das Pferd mit der Peitsche zum Ziehen angetrieben, es musste weitergehen. Es gab auch Puppenwagen darunter, mehrere sogar, vorne mit einem Spagat angezogen, von hinten angeschoben... Und alle waren voll mit Bündeln, Taschen... Das war tagelang eine wahrhaftige, ununterbrochene Völkerwanderung, unabsehbare Massen, in voller Breite der Äcker. Wie wenn ich die heutigen Migranten gesehen hätte. Ich wusste natürlich nicht genau, worum es da eigentlich ging. Mein Vater sagte nur: Sie ziehen nach Westen… aber wir nicht.”

Eines Tages war die Völkerwanderung zu Ende, es war nur der zertretene, erdige, matschige Schnee aus dem Küchenfenster zu sehen, und im Gegensatz zum Lärm, zum Geschrei und zum Gerassel empfing uns jetzt Todesstille. „Die Grenze wurde zugemacht!”, murmelte mein Großvater. An einem Vormittag wurde die Stille am Dorfende von einem riesigen Gegröll, Poltern und Surren unterbrochen. Meiner Großmutter fiel der Kochlöffel aus der Hand, die Mauern zitterten, ich verkroch mich am Fenster. Plötzlich erschien ein Riesenmonster aus Eisen, ein Panzer in meinem Blickfeld. Er fuhr an unserem Haus vorbei, dann hielt er an unserem Gartenende. Kurz darauf fuhr er wieder los, fuhr über den Graben am Straßenrand, hinein auf unser Feld und bleib genau in der Mitte mit einem Wackeln stehen. Er ließ den Motor paarmal auf Hochtouren laufen, schied riesige Rauchwolken aus, dann wurde er abgestellt und es wurde still. Dann hob sich langsam das Geschützrohr, der Turm drehte sich, es wurde Feuer ausgestoßen, dann ein Riesenknall, es fiel fast das Glas aus den Fenstern.... Ich stopfte meine Ohren zu und starrte dem Anblick nur zu, ich konnte keine Bewegung tun… Bald öffnete sich der Deckel des Panzers und es krochen Soldaten hervor, sie hatten Maschinengewehre mit Trommelmagazinen auf der Schulter. Einer bewegte sich Richtung Pfarrhaus. Ich rief: „Die Russen kommen!” Aber der Soldat kam nur bis zur Pappel herein, die am Eck unseres Gartens stand. Er kletterte hoch, zirka bis zur Mitte, und spähte von dort aus Richtung Agendorf. Dann stieg er herunter, ging zurück zum Panzer und stieg, zusammen mit den anderen, wieder ein. Das Monstrum drehte sich um und bewegte sich mit ohrenbetäubendem Geräusch, unter Rauchwolken, Richtung Agendorf weiter. Langsam wurde das Gedröhne leiser und verschwand im Nebel; der vom Wind gepeitschte Schnee verdeckte die zertretenen und dreckigen Spuren der Völkerwanderung und des Panzers langsam, in wohltuender Dicke …

Rác Miklósné Foltin Márta 

Am 23. Oktober hörte unsere neunköpfige Familie in der Stube meiner Großeltern zusammen Radio. Die Erwachsenen mit Hoffnung und Besorgnis, wir Kinder erschrocken. Mit der Zeit begann auch die Wanderung.  An dem Pfarrhaus in der Lomb utca gingen kleinere und größere Gruppen Richtung Westen, stumm, in Eile, mit Gepäck vorbei. Der Anblick eines Kinderwagens hat mich sehr bestürzt: Er war mit Polstern und Sachen vollgeladen, aber die Kinder waren bereits größer, sie gingen zu Fuß. Später wurden die Reihen der Dahinziehenden dünner. Die Menschen flüchteten fast schleichend, in der Abenddämmerung. Als der Schnee heruntergefallen war, sahen sie aus dem Fenster wie immer kleiner werdende Stäbchen aus, bis sie dann verschwunden waren. Lange gab es keinen Unterricht in der Schule. Als wir endlich wieder gehen durften, fehlte zirka ein Drittel der Klasse. Die Gewissheit, dass wir sie ab jetzt nie wieder sehen würden, war schrecklich. Ich kann mich erinnern, mein Vater hielt sich den ganzen Tag im Büro vorne im Haus auf. Es wurde oft bei uns geläutet, er versuchte ihnen zu helfen. Auch er wurde oft zum Aufbrechen angeregt, von der vertriebenen Gemeinde aus Magyarbóly wurde versucht, ihn zu bewegen, samt Familie nach Deutschland zu kommen. Er sagte aber: „Hier ist meine Heimat, meine Gemeinde, ich bin hier am richtigen Ort.” Er verstand jene, die sich auf den Weg machten, aber er freute sich über jeden, der geblieben ist.

Joóbné Foltin Enikő 

Die traurige Nachricht, dass die Revolution niedergeschlagen wurde, ereilte auch uns bald übers Radio. Die Grenze wurde zugemacht, die Gegend bewacht. Der Grenzübertritt wurde nur mehr abends und nachts versucht. Es gab aber auch einfache Soldaten, die ein Auge zudrückten und die Flüchtlinge vorbeiziehen ließen. Von den Wandorfern sind dann noch mehrere zurückgekehrt, um so viel von ihrem Hab und Gut mitzunehmen wie nur möglich. Es wurde mit einem Grenzwächter besprochen, wann er das nächste Mal Dienst haben werde, dieser hat sie dann wieder nach Ungarn hereingelassen und dann an der Grenze wieder zurück. Es gab auch einen Wandorfer, der aus Österreich heimkam, um die Sau abzustechen. Auch danach legte er die riskante Strecke noch mehrmals zurück, um die „Schweinereien” hinauszubefördern. Das war kein Einzelfall.

56er 10Eines Abends wurde zur Abenddämmerung an der Tür des Pfarrhauses geläutet. Unser Vater öffnete die Tür und kehrte mit zwei jungen Männern in die Küche zurück. Es waren Studenten. Aus Budapest gelangten sie versteckt, immer nur nachts, nach mehrtägigem Fußmarsch zu uns. Unsere Adresse bekamen sie von einem Budapester Seelsorger. Beide hatten in der Revolution eine wichtige Rolle gespielt, sie kamen auf die Liste der Hinzurichtenden. Da das Wetter kalt, neblig, regnerisch war, waren beide erkältet. Sie wuschen ihre Taschentücher, trockneten und erwärmten sich am Ofen. Essen nahmen sie kaum zu sich, sie bekamen Medikamente. Sie unterhielten sich mit Vater darüber, wie sie auf die andere Seite der Grenze kommen könnten. Vater ging noch am selben Abend über den Weinberg und über die Kastanienwälder nach Agendorf, zum Seelsorger, Herrn Weltler Ödön. Bei der Rückkehr war der Plan fertig … Am Nachmittag des nächsten Tages wurden die Studenten von ihm auf dem hinteren Feldweg nach Agendorf, zu Weltlers, geführt. Von dort gingen sie entschiedenen Schrittes weiter, zur besprochenen Gasse. Im abgemachten Zeitpunkt öffnete sich eine kleines Türl, und eine alte Tante, mit dem Buckelkorb am Rücken trat heraus, um Kleinholz sammeln zu gehen. Indem sie ihr nachgegangen waren, wussten die beiden jungen Männer bereits, wie sie weitergehen mussten, um nach Österreich zu gelangen. Unser Großvater horchte in angespannter Stimmung nach dem verabredeten Zeichen der Flüchtlinge. In ein paar Tagen hörte er dann das ausgemachte Zeichen, so erfuhren auch wir, dass sie erfolgreich über die Grenze gekommen waren. Ihre Namen haben wir aber nie erfahren …

Ács Ferencné Foltin Judit 

Die Eltern hatten versucht, uns nicht in die Geschehnisse um uns herum mit hineinzuziehen, wir spürten aber, wie angespannt die Lage war. Auf den Feldern, die um das Pfarrhaus herum lagen, zogen die Leute mit ihren Bündeln, Tieren, ihren Sachen auf dem Schubkarren wie in Kriegsfilmen dahin. Als dann nach kurzer Zeit die russischen Soldaten auf der Straße nach Agendorf marschierten, mit ihren Panzern und Lastwagen, stiegen die Leute auf unseren Gartenzaun hoch, um zu sehen, was passiert. Paar Tage lang hielten die Männer abwechselnd Wache, damit nichts Unerwartetes passieren konnte. Ich kann mich auch daran noch erinnern, dass nach dem Kindergottesdienst alle Kinder von meinem Vater einzeln nach Hause begleitet worden waren …

 

Szokolayné Dr. Weltler Maya 

„Foradalom” [mit nur einem „r” im Wort forradalom=Revolution]. Das ist kein Schreibfehler, auch kein Fehldruck. Im Herbst 1956 wurde dieses unerwartet aktuell gewordene Wort so – streng mit nur einem kurzen „-r-” im Wort ausgesprochen. Dieser Klang wurde von meinem auditiven Gedächtnis bewahrt. Die korrekte Version der Aussprache war ab den ersten Novembertagen oft im Radio zu hören. Zwischen den beiden Varianten lag ein unsagbarer inhaltlicher Unterschied, voller Spannung. In den Nachrichten tönte unentwegt nur die „hervorragende” Tätigkeit der Revolutionären Arbeiter- und Bauernregierung. Die Radiosprecher mischten der Betonung der beiden „-rr-”-Buchstaben noch einen zusätzlichen Akzent bei, es hörte sich wie „forrradalmi [rrrevolutionär, mit 3 ’-r-’-Lauten]” an. Es suggerierte Furcht, Schauer und Angstzustände. Nun, in den Tagen der „foradalom” [mit einem -r-] lief unser schon damals museales Remington-Radio den ganzen Tag bei uns. In den ersten Tagen herrschte Zuversicht. Vor einem Jahr war in Österreich das Wunder geschehen, die russischen Truppen sind aus dem Land gezogen. Wir waren der Hoffnung, dass das auch bei uns nicht unterbleiben werde.

Die Erwachsenen sprachen von westlicher Hilfe, von UNO-Truppen. Ich kann mich nicht erinnern, dass es in Agendorf irgendwelche politische Bewegungen oder Aktionen gegeben hätte. Der Bahnverkehr war stillgelegt. Ohne die aus Sopron ins Dorf pendelnden Pädagogen gab es auch keinen Unterricht. Der Eiserne Vorhang wurde jedoch durchlässig. Wir hörten immer öfter, dass einige, ja sogar ganze Familien „nach Draußen gegangen” sind. Richtige politische Flüchtlinge gab es unter den Dorfbewohnern natürlich keine. Viele machten sich auf den Weg, weil ihre im Jahre 1946 vertriebenen Verwandten schon einen bestimmten Wohlstand in Westdeutschland erreicht hatten, und die zu Hause gebliebenen hatten zehn Jahre lang nicht die geringste Chance, wenigstens zum Begräbnis der nächsten Verwandten „nach Draußen”, in den Kapitalismus zu gelangen. „Das Land der Verheißung” hatte seine Anziehungskraft nach dem zehnjährigen Eingesperrtsein …

Ich muss gestehen, auch bei uns in der Familie ist die Frage aufgetaucht: Sollen wir gehen oder bleiben? Mein Großvater, ehemaliger evangelischer Kantorlehrer, erklärte kategorisch, er werde bleiben. „Dies ist deine Wiege und dereinst auch dein Grab!” – mahnte er die Ruhelosen. Es gab Meinungen pro und contra, schließlich teilte uns unser Vater mit, dass auch wir sofort aufbrechen würden, wenn das letzte evangelische Gemeindemitglied Agendorf verlassen habe. Am ersten Sonntag der Revolution wurden die Vertreter von Agendorf von den Loipersbachern (Loipersbach, Österreich) zu einem kleinen Treffen eingeladen. Nach dem Nachmittagsgottesdienst ging die Delegation los, unter ihnen auch mein Vater und mein Bruder, János, natürlich auf Schusters Rappen. In der Gastwirtschaft in der Nähe der Grenze wurden sie liebenswürdig empfangen, sie bekamen kleine Geschenke. Meinem Vater wurde zugeflüstert, wenn er die Absicht hätte, zu gehen, würde man einen Eisenbahnwagen schicken, wir könnten unser ganzes Hab und Gut mitnehmen, und er könne gleich in das Pfarrhaus einer nah gelegenen Gemeinde einziehen.

Nach der Grenzschließung kam dann eine gefährliche Zeit. Es begannen die Repressalien. Wer einen Grund zum Flüchten hatte – und das noch tun konnte – der flüchtete. In der Grenzgemeinde erhofften sich viele Verfolgte einen sicheren Zufluchtsort im Pfarrhaus, das gleich an der Kirche stand. Es gab auch Leute, die mit den Worten anklopften: „Herr Geistlicher, helfen Sie mir, wenn mich die Kommunisten schnappen, werden sie mich aufhängen.” Es war unmöglich, ihnen nicht zu helfen. Kati néni [Tante Kati] wohnte am Dorfende, im letzten Haus. Sie war ein sagenhaftes Geschöpf. Schlagfertig, fleißig, opferbereit, lieb, fröhlich und tapfer wie eine Löwin. Kati néni mochten alle. Neben ihr wohnte einer von der zur ÁVO [Staatsschutzabteilung der Ungarischen Staatspolizei], sie pflegte sogar zu dem ein gutes Verhältnis. Die Tante nahm es auf sich, unseren in Not geratenen Landsleuten im Schutz der Dunkelheit, ohne jegliche Gegenleistung, über die Grenze zu helfen. Die „Gäste” verbrachten den Tag in der Regel in der Dachstube des Pfarrhauses …, dann sind sie unter der Leitung von Kati néni am späten Abend losgegangen. Nach solchen gelungenen „Ausflügen” kam Kati néni dann ins Dorf zurück und warf einen Kieselstein an jenes Fenster des Pfarrhauses, das der Kirche am nächsten war, wo mein Vater unter Angstzuständen und mit Beten – bis zum Klopfen – wach gewartet hatte …

Bei den meisten der Flüchtlinge kannten wir nicht einmal den Namen. Die letzte Aktion ging mit einer schaudervollen Wende zu Ende. Die „Fremdenführerin” wurde samt ihren Schützlingen von den Grenzsoldaten erwischt. Kati néni erklärte in gebrochenem Ungarisch, das junge Paar solle alle Wertgegenstände den Soldaten übergeben. Als Gegenleistung würden diese sie laufen lassen, sie selbst würde aber die Konsequenzen tragen, sie könne ruhig in die „48-er” gebracht werden [So hieß die Zentrale des Grenzschutzes, eine Kaserne unter der Táncsics utca 48]. So geschah es auch. Kati néni folgte dem wachsamen Auge des Grenzschutzes brav, sagte dann aber an der Ecke vor der Kaserne: „Montani fogok a kapitán, magának van gyűrű, óra, pénz!” [etwa: „Ich sagen werde Kapitan, haben Sie Ring, Uhr, Geld!” Dem „ausführenden Organ der Behörde” wurde klar, dass er sich jetzt in Schwierigkeiten befand. Er konnte nichts anderes tun, er musste Kati néni in Begleitung einiger ungereimter Worte laufen lassen. Es war bereits Morgen, als die lange und gefährliche Wandertour zu Ende ging. Der Kieselstein konnte natürlich wegen obiger Gründe nicht zur gewohnten Zeit am Pfarrhausfenster anschlagen. Mein Vater blieb eine der längsten Nächte seines Lebens wach … Die zu erwartenden Folgen ließen uns eine Katastrophe erahnen. Aber nach der schlaflos verbrachten Nacht kam Kati néni kurz vor 9 Uhr morgens lächelnd an. „To bin i’!”, sagte sie. („Da bin ich”, auf Ungarisch „itt vagyok”.) Dann erzählte sie, was passiert war. In völligem Einverständnis mit meinem Vater beschlossen sie, dass dies die letzte „Aktion” dieser Art gewesen war...

In unserer Familie gab es unter den heimlichen Helfern, unerschütterlich Hoffenden, ihrer Heimat treu Bleibenden oder eben sich in die Welt Sehnenden eine einzige solide Realistin: unsere Großmutter mütterlicherseits, die für die Zeit der Ereignisse bei uns gestrandet war. Sie überlebte zwei Weltkriege, noch dazu mit Räterepublik und Trianon, mit Kriegsanleihen und Inflation erschwert. Sie kannte „schwierige Zeiten”. Sie war eine Wissende, die wirklich wusste, dass in solchen Zeiten eine harte Währung oder eventuell die geeignete Menge an Edelmetallen das (fast) sichere Überleben gewährleisten können. 1944–45 hat sie noch die Erfahrung dazu gemacht, dass klare Spirituosen in den Stürmen der Geschichte auch einen guten Dienst erweisen können. Im Obstgarten neben dem Pfarrhaus reiften gerade die Zwetschken. Meine Großmutter verstand es, ihre Enkelkinder, die gerade die Zwangspause vom Schulunterricht genossen hätten, zur Arbeit anzutreiben: Wir lasen jede einzelne Zwetschke auf. Es wurde ein Pálinka [Obstschnaps] daraus, eine erhebliche Menge an edlem Getränk kam dann in die Korbflaschen. Gott sei Dank, es wurde kein Zahlmittel im Krieg daraus. Wir haben ihn zu friedlichen Zwecken verwendet und ihn immer in hoher Wertschätzung gehalten. Es wurde unsere Gewohnheit, zum Jubiläum im Oktober heimlich mit einem Gläserl „Sechsundfünfziger” anzustoßen. Durch die erste Feier, die nicht mehr geheim stattfinden musste, wurde dem im Christus-Alter und sich schon sehr im Schwinden befindlichen, alten Tropfen ein besonderer Geschmack beigefügt. Das fünfzigjährige Jubiläum erlebte er noch, doch das Überleben gelang ihm dann nicht mehr… Lange wurde eine mit hausgemachtem Etikett verzierte, spannenlange, kleine, leere Flasche von mir aufbewahrt. Es war einst „Sechsundfünfziger” darin, mein Mann hat sie bekommen, als er Mitglied der Familie wurde. (*Der Mann von Maya Weltler war der bekannte Komponist, Professor an der Musikhochschule Budapest und langjähriger Direktor der Ungarischen Staatsoper sowie Kossuth- und Erkel-Preisträger Sándor Szokolay (1931-2013))