(Anmerkung vom Autor: Ich mache einen kleinen Zeitsprung vorwärts, um die Geschichte der zweiten Edition der Agendorfer Mosaiken zu erzählen, dann werde ich aber chronologisch fortsetzen, dort, wo ich aufgehört habe).
Es war im Herbst 1995, als mich an einem Abend Böhm András, der Autor des Buches, aufgesucht hat. Wir unterhielten uns, er erzählte über die Vertreibung im Jahre 1946, durch welche die kleine Sackgemeinde sehr unerwartet und schmerzlich getroffen wurde, 1400 deutschsprachige Einwohner wurden aus Agendorf ausgesiedelt. Dann trug er aber den wahren Grund seines Kommens vor, dass er zum fünfzigsten Jubiläum sein Buch neu herausgeben möchte, ergänzt mit einigen neuen Dokumenten und Fotos, die er von Mitbewohnern des Dorfes erhalten habe, die sich früher davor verwehrt hätten.
Leider gebe es noch kein Geld dafür, aber von den Ungarndeutschen werde es unterstützt und er werde schon noch weitere Mäzene finden. Wie bekannt uns das klang, und wie oft wir in solche Sackgassen hineingerannt waren!
Es war eine schwierige Entscheidung, wir redeten ja von Kosten von mehreren hunderttausend [HUF], aber wir vertrauten András und starteten die Arbeit, um bis zum Frühherbst 1996 ohne Probleme fertig damit zu werden. Als wir die Redaktion abschließen wollten, kam immer wieder neues Material zum Vorschein – „Das hier ist sehr wichtig, das muss hineinkommen!”, sagte András mit einem Lächeln, „Ihr wisst ja, es ist mein Buch, es soll alles drin sein!’
Ein paar Tage nach dem Herbstbesuch von Böhm András wurden wir vom Mann einer meiner Cousinen, vom Bauunternehmer Pinezits Ferenc aufgesucht, es war eine wirkliche Überraschung, wir hatten außer den obligatorischen Familientreffen (Hochzeiten, Begräbnisse) nicht viel zu tun miteinander. Beim Abendessen öffnete er sich und erzählte, er habe ein gut gehendes Unternehmen und Geld, und er ist zur Meinung gekommen, es sei die Zeit da, etwas für sein Geburtsdorf, für Agendorf zu tun. Er habe an ein Denkmal gedacht, als Memento an die Schmerzen, die bei der Vertreibung erlebt worden waren, es war ja auch seine Familie davon betroffen.
„Ihr müsst mir helfen, ich weiß nicht, wie ich damit anfangen soll, ich kenne niemanden, der mich hierbei beraten könnte, ja ich wage nicht einmal, es im Dorf zu erzählen, man würde sofort sticheln und mit dem Bürgermeister steh‘ ich auch nicht auf gutem Fuß. Mein Plan würde sicher angebohrt werden. Vielleicht wisst Ihr weiter, Ihr habt ja schon so Vieles geschafft.”
Es folgten stille Tage, Ordnen der Gedanken, Abwägen der Chancen, Gespräche, die in die Nacht hineinragten. Worin wir uns ziemlich schnell einig waren: Es sollte auf jeden Fall ein Künstler aus Ödenburg sein, der das Denkmal anfertigt, er soll seinen eigenen Vorstellungen nachgehen, aber auf die von uns formulierten Gedanken eingehen.
Die Einweihung des Denkmals war von uns für den 16. April 2016 geplant, für die Dorfveranstaltung am 50. Jahrestag. Das Niveau einer würdigen Gedenkfeier könnte natürlich durch das Erscheinen eines hohen staatlichen Amtsträgers zur Einweihung des Denkmals angehoben werden. Da die Vertreibung damals aufgrund einer Verordnung des Innenministers durchgeführt wurde, ist der Gedanke gefallen, wir sollten den Innenminister einladen. Dann lachten wir, gerade der wird so gnädig sein und hierherkommen, vielleicht hatte er bisher nicht einmal den Namen Ágfalva gehört.
Die Arbeit wurde aufgeteilt. Klári [Klára Jászberényi] erledigt alle Organisationsfragen der Veranstaltung, beaufsichtigt die Fertigstellung des Buches und ich beschäftige mich mit dem Denkmal.
Es fiel mir Sz. Egyed Emma ein, sie kannte ich persönlich und habe ihre zarten Arbeiten, die die menschliche Seele liebkosen und das Auge beglücken, bis heute lieb.
Ich meldete mich bei Emike an. Sie waren sehr lieb, ihr Mann Szabados Laci bácsi empfing mich, sie erwarteten mich mit duftendem Tee und Honiggebäck. Mein Herbststrauß wurde von Emike in eine gewölbte Vase getan und diese auf ihren Schreibtisch gestellt. Wir kannten einander flüchtig, aber so wirklich lernten wir uns erst jetzt kennen. Als ich von den Plänen unseres Verlages erzählte, waren beide erfreut. Es gibt ja so wenig Kunstwerke auf unseren öffentlichen Plätzen in der Gegend, jedes neue Stück vertritt einen hohen Wert im kulturellen Leben der Gemeinde, es hält das Gedächtnis wach, es kann neue Traditionen schaffen.
Emike bat mich um ein wenig Bedenkzeit, um mein Angebot zu überlegen. Ich kehrte mit einem guten Gefühl heim, ich hatte den Eindruck, meinen Auftrag erfüllt zu haben.
Klári nahm inzwischen den Kontakt zu den Organisatoren der Feier auf, zur Gemeindeselbstverwaltung und der Minderheiten-Selbstverwaltung. Es wurden aber nur die Gedenkfeier und das Buch erwähnt, vom Denkmal fiel noch kein Wort.
Am nächsten Tag wurde ich von Emike angerufen, sie teilte mir höflich, aber entschieden mit, dass sie den Auftrag nicht annehmen könne, weil das schon eine zu große Aufgabe für sie sei und dass ich einen jüngeren Bildhauer suchen möge.
Die Stelle, an der wir uns das Denkmal vorgestellt hatten, wurde von mir bereits rundherum fotografiert, aber wir hätten noch Luftbilder vom kleinen Platz vor der evangelischen Kirche (Martin-Luther-Platz) gebraucht. Drohnen gab es damals noch nicht, so blieb nur die Möglichkeit für mich übrig, in den Kirchturm hinaufzuklettern und die Fotos aus dem obersten kleinen Fenster, hinausgebeugt, anzufertigen. Ich bekam einen Termin für Sonntagmorgen, zwei Stunden vor Beginn des Gottesdienstes.
Samstag Abend war ich gerade mit dem Vorbereiten des Fotoapparats und der Filmrollen fertig, als Pinezits Feri erschien. um sich zu erkundigen, was wir bisher erledigen konnten. „Wir sollten das aber jetzt nicht hier besprechen, gehen wir lieber irgendwo hin, wo man auch etwas trinken kann!”
Was erledigt gewesen war, konnte ich in paar Sätzen zusammenfassen, viel Zeit nahm es nicht in Anspruch, danach widmeten wir uns eher nur mehr dem Trinken.
Sehr früh am nächsten Morgen kam ich mit Kopfschmerzen belastet, in einem ziemlich miserablen Zustand in Agendorf an. Es war noch dunkel und auch kalt, ich war ganz durchgefroren, bis der Mann mit dem Schlüssel kam. Ich war noch nie drinnen, ich kannte den Weg nicht. Er zeigte mir, wie ich in den Turm hochkomme, er wies mich darauf hin, wo es gefährlich sei. Stiegen gebe es nur bis zur Hälfte des Turmes, weiter hinauf kann man nur auf Holzleitern steigen, er würde aber nicht mitkommen, da er Höhenangst habe.
Ich fing an, die Stiegen hochzusteigen und es begann die bislang größte Schaudergeschichte meines Lebens, wenn ich daran zurückdenke, ballt sich mein Magen immer noch zusammen
Die Lampen leuchteten mager bis zur Hälfte der Spindeltreppe, von draußen drangen vorerst kaum noch Lichtstrahlen herein, an eine Taschenlampe hatte ich gar nicht gedacht, ich setzte meine Schritte vorsichtig, indem ich mit den Füßen immer die nächste Stiege ertastete. Langsam erreichte ich die erste Leiter, es begann draußen hell zu werden, so konnte ich die Konturen bereits erkennen. Es war keine richtige Leiter, sondern dicke Baumäste, auf die Leisten genagelt waren, hie und da durch Krampen befestigt, sie ragten steil in die undurchsichtliche Höhe. Ich fing an zu klettern. Es war alles voller Staub und Vogeldreck, mal knarrten die Leitersprossen unter meinen Schritten, mal quietschten sie. Als ich die letzte Sprosse erreicht hatte, flatterte ein Taubenschwarm hoch, wirbelte den Staub noch mehr auf und jagte mir schlagartig Angst ein. Ich erreichte das zweite Geschoss, hier sah ich ein wenig mehr, weil weit über mir sich das Fenster befand, das zum Platz schaute. Es war gar kein Fenster, eher eine Schießscharte oder eine Durchlüftungsöffnung. Die weitere Leiter, weiteres Klettern. Bis ich oben ankam, war es bereits Tag und auch meine Kopfschmerzen waren weg. Ich zwang mich durch die enge Öffnung und schaute mich um, die frohen Lichterstrahlen der aufgehenden Sonne leuchteten mir in die Augen, es war noch kalt, aber die Wärme regte sich spürbar unter dem Rock „des alten Weibes“. Ich bewunderte den niedlichen, kleinen Platz, er war wunderschön, er hatte die Form eines Wassertropfens. Ich machte einen Haufen von Fotos in verschiedenen Einstellungen, da es ein Rollfilm-Apparat war, überließ ich es nicht dem Zufall, ob es gelingt, es musste jetzt passen, noch einmal werde ich hier nicht hochklettern.
Den Abstieg schildere ich nicht im Detail, er war schlimmer als der Aufstieg. Der Film wurde von mir noch am selben Tag zum Entwickeln eingegeben, aber ich musste noch zwei Tage warten, um die Bilder sehen zu können.
Organisation, Herumtelefonieren, Briefe, Papierhaufen, Krämpfe.
Endlich halte ich die Fotos in der Hand. Ja, die sind besser gelungen als erwartet. Aber wer soll der Bildhauer sein?
Ich dachte mir, ich rede noch einmal mit Sz. Egyed Emma, wenn ich ihr die Fotos zeige und mich ein wenig wegen des gruseligen Abenteuers bemitleiden lasse, wird sie den Auftrag dann doch annehmen. Wir saßen bei ihr, Emike sah sich die Fotos an, Laci bácsi [der Ehemann, Szabados László] las die Geschichte der Vertreibung.
’Wie ein Wassertropfen”, sagte ich. Nach einem langen Schweigen schaute Emike lächelnd auf – „ein Tränentropfen!”
Dies war der Moment, in dem das Zimmer von Seelenlicht beleuchtet wurde, das uns ein Lächeln auf das Gesicht zauberte. Wir sahen uns nur an und lächelten.
Die Arbeiten beschleunigten sich, das Denkmal wurde von Emike in ein paar Tagen entworfen, räumlich positioniert, im Aufriss, angepasst an die anderen Denkmäler und Grünanlagen. Auch das Genehmigungsverfahren wurde von ihr gestartet: Aufstellungsort, Maße und Form, Budget kamen ans Lektorat für Bildende Kunst. In Agendorf wusste zu dieser Zeit noch niemand, was hier vorbereitet wurde. Emike wurde vom Lektorat zu einer Konsultation einberufen, sie wurde von mir nach Budapest gefahren, von da an fungierte ich quasi als persönlicher Assistent neben ihr. Ich bin dem Schicksal dankbar, dass ich ein Teil dieser Arbeit sein durfte, von der ersten Skizze an, über den Gipsabdruck bis zur Gießerei war ich überall dabei. Die Pläne wurden vom Lektorat schnell angenommen und genehmigt, es wurde betont, dass das Denkmal nur auf der ursprünglich festgelegten Stelle aufgestellt werden darf.
Klári leistete inzwischen hervorragende Arbeit, der Innenminister bejahte unser Begehren sofort, sie war in ständigem Kontakt mit seinem Sekretariat und später, als von anderen versucht wurde, sich bezüglich der Einweihung des Denkmals dem Minister anzupirschen, wurden alle an Klári geschickt, da sie die am meisten Zuständige sei.
Zum Vortragen eines Gedichtes konnte auch [der Schauspieler] Székhelyi József für die Gedenkfeier gewonnen werden. Unser Buch kam in die Druckerei, trotz der anfänglichen Stolpersteine ging alles schön seinen Weg.
Dann kam die schwierigste Aufgabe, wir mussten aus dem Hintergrund hervortreten und in Agendorf, in einer öffentlichen Gemeindeversammlung damit herausrücken, womit wir in den vergangenen Wochen und Monaten beschäftigt waren. Pinezits Ferenc erzählte, was er möchte, warum und wie. Er erntete keinen eindeutigen Erfolg. „Warum ein Denkmal und warum gerade dort, warum nicht am Bahnhof, wo die Leute doch von dort verschleppt worden waren. Und auch sonst, in so kurzer Zeit kann man sowas sowieso nicht bewerkstelligen.“, hieß es. Feri ließ sich in keine Debatten ein, er stellte uns vor und übergab uns das Wort. Die Dokumentation der Gedenkfeier wurde von uns dem Bürgermeister und den Gemeinderäten einzeln übergeben, den erschienenen Dorfbewohnern über den Ablauf der Veranstaltung berichtet.
Die Gemüter beruhigten sich, als der Brief von [Innenminister] Kuncze Gábor vorgezeigt wurde, auch der Bürgermeister beruhigte sich, obwohl er uns sein Leben lang nicht verziehen hat, dass es zur Errichtung des Denkmals nicht durch seinen Entscheid kam und er vor vollendete Tatsachen gestellt wurde. Er hat aber alle Lorbeeren und Anerkennungen geerntet.
Der Tag der Gedenkfeier kam immer näher, es gab die ganze Woche schönes Wetter, aber am besagten Morgen wehte eisiger Wind und es begann auch zu schneien. Die Veranstaltung zog sich sehr in die Länge, es gab eine Menge Redner von der ungarischen und auch von der deutschen Seite, wir zitterten vor Kälte, bis es zur Einweihung des Denkmals kam, Stille, es rührte sich keiner.
Klári trat an Kuncze heran, klopfte ihm auf die Schulter und sagte „Sie sind dran, Herr Minister!” Die Sicherheitsleute zuckten einheitlich und waren dem Eingreifen nahe, Kuncze kam ein Lächeln ins Gesicht und er ging Richtung Relief, das mit einem weißen Tuch umhüllt war.
Es verlief alles ordnungsgemäß, auch die Bücher waren am Tag vor der Feier angekommen, auch das Geld war da, das Denkmal wurde wunderschön.
Wenn ihr in Agendorf seid, lohnt es sich, für ein paar Minuten dort anzuhalten, am Denkmal, das sich harmonisch in den Platz eingliedert, mit der evangelischen Kirche im Hintergrund, es ist wirklich eine Augenweide.
Heute lebt keiner der Hauptakteure mehr unter uns, Sz. Egyed Emma, Böhm András, Pinezits Ferenc leben in ihren Werken weiter.
Nur wenige wissen, dass zur Gedenkfeier auch von Emike geschaffene Gedenkmünzen angefertigt wurden, auch diese zeige ich euch jetzt.
Ungarischer Text von Bugyi Sándor, ins Deutsche übersetzt von Feri Tauber - vielen Dank an beide!
Anmerkung des oedenburgerland-Teams: Die Auflage von 1996 ist die 2. Auflage, die Erstauflage erschien 1994.