Irma Progli, geb. Bernecker aus Agendorf
Flucht und Vertreibung im April 1945/1946
Flucht und Vertreibung aus Agendorf, erzählt von meiner Mutter Irma Progli, geborene Bernecker.
(Meine Mutter war die Tochter von Michael und Susanne Bernecker, geb. Gritsch und wurde am 3. April 1920 in Agendorf geboren.)
Zuerst die Ereignisse vorher
Der Herbst 1944 war schon sehr schicksalhaft. Im Oktober 1944 verlor mein Onkel, Michael Bernecker, geb. am 2. August 1923 sein Bein und befand sich im Lazarett in Wien. Am 19. Oktober 1944 (am Tag des Geburtstages meiner Großmutter, seiner Frau) ist mein Großvater Michael Bernecker von den Partisanen in Slowenien erschossen worden.
Meine Mutter holte ihren Bruder Michael aus dem Lazarett in Wien zurück, was mit großen Schwierigkeiten verbunden war.
Agendorf wurde bombardiert: 18 Personen starben.
Das Dach des Hauses meiner Großeltern wurde durch den Luftdruck schwer in Mitleidenschaft gezogen. Am 1./2. November wurde es neu eingedeckt. In dieser Zeit kam auch meine Mutter aus Kapfenberg, wo sie 7 Jahre lang als Köchin und Haushälterin bei der Apothekerfamilie Thalhammer gearbeitet hat, in ihren Heimatort zurück.
Die Kriegsfront kam immer näher, russische Flugzeuge umkreisten den Luftraum und warfen ihre Luftminen ab. Am Gründonnerstag wurde der Frontzustand erklärt und das Gebiet geräumt.
Karwoche 1945
In diesen Tagen kamen deutsche und ungarische Offiziere und erklärten, dass dieses Gebiet um Agendorf zur Kampfzone erklärt wurde und alle Agendorfer, egal ob deutsch oder ungarisch hätten ihre Häuser zu verlassen.
Daraufhin verließen meine Großmutter und ihre Kinder (Irma, Theresia, Mathias, Johann und Paul) Agendorf. (Andreas war in amerikanischer Gefangenschaft und Michael wahrscheinlich bei seiner Braut Maria Finzinger aus Wandorf.)
Meine Urgroßeltern blieben in der Hauptstraße (Nummer 25, heute Nr.: 31), sie wollten, wenn, dann in der Heimat sterben. Es sollte anders kommen.
Dann begann die Flucht nach Österreich (nicht die Vertreibung). Oft erzählte meine Mutter von den Erlebnissen während der Flucht.
Es wurden noch Schweine geschlachtet und alles auf einen Pferdewagen geladen – hinten wurde eine Kuh angebunden, die beste Kuh, um auf der Flucht genug Milch zu haben. Doch die Kuh mussten sie bereits in Burgenland zurücklassen, weil ihr das Gehen viel zu anstrengend war. Sie verkauften sie in einem Ort (Sauerbrunn?) und legten das Geld auf ein Sparbuch, dort liegt es noch heute. Das Sparbuch selbst ist heute nicht mehr auffindbar.
Die Flucht weiter über Wiener Neustadt war immer von Bombenhageln begleitet. Das Pferd namens „Schari“ scheute immer wieder und es war sehr anstrengend, die Zügeln zu halten. Ganz schlimm müssen die Luftangriffe in Wiener Neustadt gewesen sein.
Die Lebensmittel mussten eingeteilt werden, denn sie wussten nicht, wie lange die Flucht dauern würde und wo sie sie hinführt. Meine Mutter als ältestes Kind, sie war damals
25 Jahre alt, hatte die gesamte Verantwortung zu tragen, denn meine Großmutter war mit der ganzen Situation, Flucht, Verlassen der Heimat, Tod des Ehegatten total überfordert.
Sie fuhren mit dem Pferdefuhrwerk bis nach Tirol, dort mussten sie umkehren, denn die Franzosen waren bereits in Österreich einmarschiert. Es ging zurück bis nach Oberösterreich. In der Nähe von Marchtrenk konnten sie bei einem Bauern (Scharling-Bauer) Unterschlupf finden.
Nach dem die Kampfhandlungen in und um Agendorf beendet waren und der 2. Weltkrieg am 8. Mai 1945 zu Ende war, kehrten meine Großmutter und ihre Kinder, ausgenommen meine Mutter nach Agendorf zurück, in der Hoffnung, dass es jetzt ein gutes Ende nehmen würde. Meine Mutter blieb in Marchtrenk, denn sie gebar im Juli 1945 meinen Bruder Ernst (sein Vater ist vermisst) und wollte die Anstrengungen der Heimreise mit dem Neugeborenen nicht auf sich nehmen. Wahrscheinlich lernte sie bereits meinen Vater (ein Flüchtling aus Ungarn), der beim Bauern in der Landwirtschaft arbeitete, in Marchtrenk kennen.
Karwoche 1946
Der Krieg war zu Ende und die ganze Welt hoffte, dass sich das Leben wieder normalisieren würde. Doch für die deutschen Agendorfer kam alles noch viel schlimmer, als das Kriegsgeschehen zuvor war. Die ungarische Regierung befasste sich mit dem Gedanken einer Aussiedlung der deutschen Bevölkerung. Die Siegermächte stimmten im August 1945 der Aussiedlung zu.
Nachdem auch die Vertreibung der Deutschen aus Agendorf feststand, hängten die Behörden in der evangelischen Schule Listen auf, darauf standen die auszusiedelnden Personen. Insgesamt waren 1094 Personen betroffen. Dazu zählten auch meine Großmutter Susanne Bernecker, ihre Eltern Theresia und Andreas Gritsch und 4 unmündige Kinder: Theresia, Mathias, Johann und Paul.
Pro Person durften 50 kg an Gepäck mitgenommen werden. Die Deportation erfolgte in Viehwaggons. Wohin die Reise ging, wussten sie nicht. Der erste Transport erfolgte am
15. April, bei dem auch meine Familie war und der zweite am 18. April.
Transport 1 vom 15. April ging nach Aalen.
Transport 2 ging nach Neckarzimmern.
Der Transport der auszusiedelnden Agendorfer ging über die Westbahnstrecke, also auch über Linz – Marchtrenk weiter nach Deutschland. Meine Großmutter wusste ja, dass ihre Tochter, also meine Mutter in Marchtrenk Unterschlupf gefunden hatte. Sie warf daher in Marchtrenk einen Zettel für meine Mutter aus dem Zug, in der Hoffnung meine Mutter würde ihn finden. Dies war natürlich nicht der Fall.
Im Jahr 1954 oder 1955 fanden meine Mutter und meine Großmutter wieder zueinander. Meine Eltern, meine zwei Brüder und ich besuchten unsere Großmutter in ihrer neuen Heimat.
Die neue Heimat meiner Großmutter
Meine Großmutter kam nach Württemberg, Kreis Aalen, Gemeinde Thannhausen, Ortschaft Bergheim zur Familie Kohnle.
Meine Urgroßeltern Theresia und Andreas Gritsch kamen ins Altersheim nach Ellwangen, wo sie auch bald starben: meine Urgroßmutter im Mai 1946 und mein Urgroßvater im August 1948.
Dazu möchte ich erwähnen, dass meine Großmutter bei der Familie Kohnle in Bergheim sehr positiv aufgenommen wurde. Wir Enkelkinder durften mehrmals unsere Ferien am Bauernhof der Familie Kohnle verbringen, durften Traktor fahren – es war immer ein besonderes Erlebnis. Ich habe nur gute Erinnerungen an meinen Ferienaufenthalt in Bergheim.
Im November 2015 besuchte ich den Sohn Josef der Familie Kohnle –heute über 70 Jahre in Bergheim. Er berichtete mir ebenfalls von einem harmonischen Verhältnis zwischen meiner Großmutter und seinen Eltern. Dabei erzählte er mir, dass sich meine Urgroßeltern noch besorgt um ihre Tochter kümmerten, ob sie denn gut bei ihnen untergebracht sei.
Ein besonderes Erlebnis für Josef Kohnle: Er aß das erste Mal Zwetschkenknödel, als sie meine Großmutter zubereitete.
Irma Progli jun., im Juni 2016