fig 02Seit achtzehn Jahren – seit dem fünfzigsten Jahrestag der Aussiedlung von Deutschen – erweist man jedes Jahr im April im Rahmen einer Gedenkfeier dem Andenken von mehr als tausend Menschen die Ehre, die 1946 aus Agendorf, nahe an der österreichischen Grenze, vertrieben worden sind. Es ist beachtlich, dass auch dieses Jahr mehrere hundert Ungarndeutscher, Ungarn, Österreicher und damals Vertriebener an der Veranstaltung teilgenommen haben.

Es ist deshalb beachtlich, weil man jahrzehntelang nicht an die Vertreibung erinnern durfte, ja selbst Deutsch sprechen konnte man beinahe nur heimlich. Die Ereignisse vom April 1946 in der Stadt Sopron und Umgebung, die so viel Unrecht, Unmenschlichkeit und Grausamkeit bedeuteten, auch nur mit einem einzigen Wort zu erwähnen, grenzte lange Zeit schon an ein Kapitalverbrechen. Einen Tag vor Palmsonntag, am 12. April diesen Jahres, bot die Agendorfer Evangelische Kirche der Gedenkfeier des Dorfes, auf der im Rahmen einer deutsch- und ungarischsprachigen Veranstaltung die örtliche Pfarrerin, der Bürgermeister und Vertreter der Schule zu Wort kamen, ein Zuhause. Schüler sagten deutsche Gedichte auf, der Chor sang in seiner deutschen Tracht deutsche Lieder und die örtliche Blaskapelle spielte die ungarndeutsche Hymne. Nach der Kranzniederlegung am für die Vertriebenen errichteten Denkmal auf dem Luther-Platz wurde beim traditionellen Agendorfer Bohnenstrudel und dem unausweichlichen Blaufränkischen die Erinnerung im Hof des Gemeindehauses fortgesetzt. Erinnerung an die Vergangenheit, und an das, was noch übriggeblieben ist. Der ganze Nachmittag ähnelte dem in den Lagern gut bekannten „Krümelpicken”. Es war schön die Erinnerungskrümel im Gotteshaus und auch am gedeckten Tisch gemeinsam zu picken. Es ging besonders nahe, dass wir nach 68 Jahren auch mehrere von den damals  Vertriebenen in unserem Kreise begrüßen durften.

Es geschah nicht heuer, dennoch erscheint es mir so, als wäre es heute gewesen. Ich werde nie  die Frau im rosafarbigen Kostüm vergessen, die ich vor einigen Jahren getroffen habe, als sie aus Deutschland zum Agendorfer Kirchtag nach Hause gekommen war. Wochen und Monate zuvor hatte sie sich schon auf den Gottesdienst des Kirchweihfests, auf  die Vorführung der Tänzer und auf den großen Trubel im Dorf vorbereit. Sie erzählte, dass sie schon über achtzig sei und ihr Mann kurz vorher gestorben sei. Sie sagte auch, dass sie genau weiß, dass sie das letzte Mal in ihrem Leben hier wäre. Sie hat von Agendorf, das für sie die unbeschwerte Kindheit und vielleicht die schönsten Jahre ihres Lebens bedeutete, Abschied nehmen wollen. Sie werde nicht mehr kommen, weil sie schon alt geworden sei. Sie wollte sich ein letztes Mal von den Leuten, den Gebäuden, den Plätzen verabschieden, und blieb deswegen eine gute Woche hier im Dorf. Es war herzerschütternd zu sehen, wie diese alte Frau tagelang gemütlich auf der Hauptstraße auf und ab spazierte. Sie nahm Abschied: von ihrem ehemaligen Haus, das „im Namen des Gesetzes” von ihnen weggenommen wurde, von ihrer Kirche, ihrer alten Schule, ihren auf den Friedhof gebliebenen Großeltern, von den bis heute hier lebenden Cousinen und Cousins und von ihren Klassenkameraden. Von allen und allem. Und sie trug immer ein rosafarbenes Kleid. Als ob sie mit der Farbe ihres Kleides – vielleicht auch unbewusst – sich auf die Spuren ihrer rosafarbenen Träume, als sie sechzehn Jahre alt gewesen war, begeben hätte. Es schien so, als wollte sie nach sechs Jahrzehnten ihr in der Jugend zerbrochenes Leben und ihre daheim gelassene Liebe suchen. Sieben Tage lang, im Alter von achtzig, ganz in  rosa.

Während der Gedenkfeier wurde mehrmals gesagt, dass die Erinnerung unsere Pflicht ist. Ich möchte dazu nur noch vorsichtig anmerken, dass wir das nicht nur solange tun sollten, wie noch manche von den aus ihrer Heimat Vertriebenen in rosa oder in schwarz gekleidet als Besucher nach Hause kommen. 

Erschienen- auf ungarisch- in Evangélikus Élet, am 20. April

Heinrichs Eszter

Vielen Dank Eszter für diesen wertvollen Beitrag!