Zum Gedenken
Tradition bewahren heißt nicht – Asche anbeten, sondern das Feuer zu erhalten. Mit anderen Worten: Gedenkstunden sind nicht geschaffen, um Vergeltungsgefühle zu schüren, sondern die Erinnerung an Unrecht wachzuhalten, damit es nicht wieder geschieht. 64 Jahre – was hat sich da alles verändert! In den Dörfern und Städten wächst eine neue Generation heran – mögen sie aus den Fehlern der Ahnen lernen!



Nach dem Verklingen der Glockentöne wurde mit den beiden Hymnen, der ungarischen Nationalhymne und der Ungarndeutschen Hymne die Gedenkstunde feierlich eingeleitet. Gedichte in deutscher Sprache, vorgetragen von Martina Holzhofer und Anna Plöchl, Gesangsdarbietungen des Gesangvereins „Morgenröte sowie der Agendorfer Musikkapelle umrahmten die Feier.

Die Fest- und Gedenkrede hielt der evangelische Pfarrer Michael Heinrichs:

Sehr geehrte Damen und Herren, liebe Gäste –
und liebe Gemeinde von Agendorf!

Heute haben wieder die Glocken unserer Kirche geläutet- sie erinnern an einen schlimmen Tag vor 64 Jahren, als am 16. April 1946 mehr als 1400 Menschen – Männer, Frauen und Kinder, ihre Heimat verlassen mussten. Am heutigen Tag trauern aber nicht nur wir, sondern zur Stunde trauert auch das polnische Volk um die 96 Opfer des tragischen Flugzeugabsturzes. Das wollen wir nicht vergessen. Wir neigen unsere Köpfe vor den polnischen Freunden.

Es gibt ein altes Sprichwort: Die Zeit heilt alle Wunden. Aber sind nun nach 64 Jahren alle Wunden geheilt? Nein. Denn wir vermissen die Menschen schmerzlich, die damals aus unserer Mitte gerissen wurden. Und das Läuten der Glocken weist uns darauf hin, daß es nicht nur um die Vergangenheit geht, nicht nur um ein geschichtliches Datum, sondern daß dieses Geschehen auch heute noch Bedeutung hat. Wir trauern als Dorfgemeinschaft aber auch als christliche Gemeinde um die Vertriebenen. Deshalb spricht auch heute der evangelische Pfarrer zu Ihnen.

Gestatten Sie mir bitte, daß ich meinen Glauben aus dieser Rede nicht auslasse. Als Christ muss ich darauf hinweisen, daß das Unrecht der Vertreibung seine Ursache in einem anderen großen Unrecht hatte: dem großen und schrecklichen Krieg, der von Deutschland und seinen Verbündeten ausgegangen ist. Es ist viel Schreckliches geschehen in dieser Zeit: Menschen starben im Bombenkrieg, Länder wurden besetzt, Minderheiten verfolgt und getötet, es gab Konzentrationslager und Arbeitslager, auch hier in der Gegend. Menschen sind schuldig geworden. Die Bibel nennt das Sünde. Am Ende dieses Krieges kam die große Abrechnung, zu ihr gehörte auch die große Vertreibung vieler Volksgruppen in vielen Ländern Europas. Auch in der Zeit der Bibel war es so, daß die Folgen des Unrechts immer auch Unschuldige treffen. Ein polnischer Freund sagte gestern zu mir: Die Vertriebenen sind – nach den Juden und Zigeunern und Homosexuellen, nach den Polen und Russen – die letzten Opfer Hitlers.

Nein, die Zeit heilt solche Wunden nicht. Heilung kann aus der Sicht des Glaubens nur durch zwei Dinge kommen: Vergebung und Erinnerung. Wir dürfen nicht vergessen – denn wenn wir vergessen, dann tun wir den Opfern von damals erneut Unrecht. Der spanische Dichter Jorge Santayana sagte: "Die sich des Vergangenen nicht erinnern, sind dazu verurteilt, es noch einmal zu erleben." Aber ebenso wichtig ist es, nicht bei der Erinnerung stehen zu bleiben, sondern einen neuen Anfang zu wagen. Erinnerung ohne Vergebung führt zur Rache. Vergebung ohne Erinnerung ist nicht ehrlich gemeint.

Wenn wir heute der Vertreibung gedenken, wenn wir die Kirchenglocken läuten und uns vor dem Denkmal versammeln, dann tun wir dies, damit so ein Unrecht nicht noch einmal geschehen möge. Die Vertriebenen sollen uns genauso wie die vielen Toten der Weltkriege und der Verfolgung eine Mahnung sein, daß Krieg und Gewalt, Nationalismus und Rassenhass keinen Platz unter uns haben dürfen. Mein christlicher Glaube lehrt mich, daß ausnahmslos alle Menschen Gottes Kinder und somit einander Geschwister sind. Mit Geschwistern darf man sich streiten, aber man darf sie weder verfolgen, noch quälen, noch töten oder vertreiben.

Wir alle haben den Auftrag, uns für eine bessere und gerechtere Gesellschaft einzusetzen, und wir haben gute Chancen dafür. Die Grenzen sind gefallen, in einem Monat wird eine gut ausgebaute Straße unser Land mit unserem Nachbarland verbinden. Aber das wird uns nur dann zum Segen werden, wenn auch in unseren Köpfen die Mauern fallen. Wir können heute dafür sorgen, dass es keine Kriege, keine Arbeitslager, keine Vertreibungen mehr gibt. Dieser Tag kann dabei helfen, dieses Denkmal kann uns daran erinnern.

Ich danke für ihre Aufmerksamkeit.
Pfarrer Michael Heinrichs
Agendorf, den 17.April 2010


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