Im leer gewordenen Dorf – warme Speisen auf der Feuerstelle

Artikel aus der Zeitung „Evangélikus Élet“, geschrieben von Eszter Heinrichs, ins Deutsche übersetzt von Ludwig Müllner

Als ich vor sechs Jahren in die westlichste Spitze des Landes zog, fühlte ich mich zwar wie eine Fremde, aber dennoch so als wäre ich in ein bekanntes Land gekommen. Bis heute bin ich überrascht, dass hier auch die einfachsten Menschen mit spielerischer Leichtigkeit von der deutschen Sprache auf Ungarisch und umgekehrt wechseln. In Agendorf und Wandorf hört man von der Kirche bis zur Gastwirtschaft das deutsche Wort. Heute weiß ich auch, dass man die beiden Sprachen großartig mischen kann. Hier hat man keine Sorge, man wird trotzdem verstanden. Unlängst stand eine Dame vor mir im örtlichen Krämerladen und sprach zum Verkäufer: „Schätzchen, egy Kiló Brot kérek“. Und ohne zu überlegen landete das Brot in ihrem Korb. Ich höre gern wenn die Einheimischen untereinander Deutsch sprechen. Sie sprechen in ihrem herrlichen Dialekt und wenn ihnen etwas auf Deutsch nicht einfällt benutzen sie einfach ungarische  Worte. Ungefähr so: „Ich war im Hospital bei vérvétel (Blutabnahme)“. Oder: „Mein Vernyomás (Blutdruck) war fast zweihundert“. Auf dieser kleinen Insel des Landes ist es als wäre alles anders als einige Kilometer weiter weg. Bis heute bin ich noch verblüfft dass man Kuchen auch mit Bohnen essen kann, dass es nicht egal ist mit welchem Wellholz man den Strudelteig auswalzt weil das deutsche Wellholz einen Griff hat, das ungarische aber nicht.

Auch im gesellschaftlichen Leben gibt es nicht zu vernachlässigende geistige Unterschiede zwischen einheimischen Deutschen und den ausgesiedelten und zugezogenen Ungarn. Das Auffallendste für mich ist vielleicht, dass die Ungarn das Heilige Abendmahl kniend empfangen während die Deutschen es stehend einnehmen. Das fällt dann stark auf, wenn alles im Kreise passiert. Der deutsche Gläubige würde sich nie am Altar niederknien, der Ungar würde sich auch mit einer Knie-Prothese niederknien. Vom Altar bis zu den Bänken kann man darüber nachdenken, warum hat sich der andere niedergekniet oder warum ist er sitzen geblieben? Fortgesetzt konfliktbeladen und (heute schon ein bisschen) Quelle des Humors des täglichen Zusammenlebens, worüber ich mich jedoch, als „zuagroaste“ Seelsorgerin gerne amüsiere.

Ich glaube, hätte es 1946 keine Aussiedlung gegeben, würden in dieser Gegend nicht viele Menschen ungarisch sprechen. Die Vertreibung der Deutschen aus ihrer Heimat war eine sowohl politisch als auch menschenunwürdige gesellschaftliche Einmischung, welche die hier Lebenden bis heute nicht verdaut haben. Nicht hier und auch nicht in der neuen Heimat, in Deutschland. Aus diesem Zwang heraus entwickelte sich ein konsolidiertes Zusammenleben. Die Geschichte der Deutschen besteht aus vielen Mosaikstückchen, einige davon habe ich von zwei älteren Herren, Matthias Gritsch und Andreas Böhm gehört. Andres Böhm hat die Geschichte seines Geburtsdorfes in dem Buch „Ágfalvi Mosaik“ zusammengefasst, Matthias Gritsch ist ein eifriger Mitarbeiter bei dem Web-Projekt www.oedenburgerland.de, wo auch die Geschichte der Aussiedlung dokumentiert ist.

Wenn ich Fragen zur Geschichte der Dörfer habe, wenn ich in Kirchenbüchern die gotischen Buchstaben nicht lesen kann, wenn ich die goldenen Konfirmanden heraussuchen soll, wenn ich jemanden brauche – dann kommen sie und helfen. Sie erzählen, zeigen, übersetzen, sammeln, spenden und sie sind immer darum bemüht, dass das deutsche Wort und die Kultur aus unseren Kirchen und aus unseren Siedlungen nicht verschwinden. So habe ich die beiden auch in diesem Fall befragt, was ich schon seit sechs Jahren mache.

Matthias Gritsch aus Wandorf, er ist der ältere der Beiden erzählt, wie er sich an die Tage der Auslieferung erinnert:

gritsch smallIch war 10 Jahre alt im Jahr 1946. Mein Vater arbeitete bei der Stromversorgung, was ein staatlicher Betrieb war, darum kamen wir nicht auf die Liste der Auszusiedelnden, obwohl wir uns bei der Volkszählung 1941 als Deutsche und zur deutschen Muttersprache bekannt hatten. Alle wurden sie verschleppt: meine Cousinen, meine alte Großmutter, der größte Teil meiner Klassenkameraden, die Bewohner unserer Straße. Etwa 90% der Einwohner von Wandorf. Ich konnte mich von meiner Großmutter nicht einmal verabschieden, da sie in Agendorf wohnte. Obwohl das nur vier Kilometer von uns entfernt ist, aber die Dörfer waren von Soldaten abgesperrt. Man konnte sich keiner Siedlung nähern oder sie verlassen. Die Liste der Auszusiedelnden wurde am Notariatsgebäude des heutigen Kindergartens ausgehängt. Fassungslosigkeit, Ungläubigkeit und Verzweiflung herrschten im ganzen Dorf. Doch wir lebten hier, hier sind wir geboren. Und unsere Ahnen auch.

Es verschwanden meine Klassenkameraden, an ihrer Stelle kamen Neue. Sie betitelten uns als „Schwaben“, aber langsam, sehr langsam, lernten wir, miteinander zu leben, denn auch sie hatten ihre eigene Geschichte. Als die Transporte mit mehreren tausend Menschen abfuhren, war in Wandorf ein so schneller Wechsel, dass in vielen Häusern das für sich gekochte, warme Mittagessen für die ankommenden ungarischen Familien auf der Feuerstelle stand.

Diejenige, die aus welchen Gründen auch immer, hierbleiben konnten, waren manchmal an der Grenze des Wahnsinns. Es gab welche, die ihre Familien und dann sich selbst umbrachten. Unsere Eltern ließen uns so in die Schule, dass sie uns ans Herz legten, nicht davon zu sprechen, was wir zuhause hörten. All die Wehmut, Bitterkeit, der Kummer und die Meinung unserer Eltern durften wir keinesfalls in die Schule mitnehmen.

Dann, 1948, mussten von den Daheimgebliebenen 15 Familien ihr Heim verlassen. Zu dieser Zeit kamen die oberländischen ungarischen Familien. Auch meine Familie musste gehen, wir bekamen ein trümmerhaftes Haus in der Nähe. Das Haus war in so schlechtem Zustand, dass mein Vater sagte: „ na hierher kommen nicht einmal die Geißen“. Irgendwie hat er es dann aber fertiggebracht, dass wir in unser eigenes Haus als Untermieter ziehen konnten.

Es waren schwere Zeiten. Für uns und auch für Ausgesiedelten. Wir wussten kaum etwas von ihnen. Jedoch dank der österreichischen Bahngesellschaft konnten wir sie von der Ferne sehen. Hier, am Rand der Westgrenze, fahren auch heute noch – und fahren schon seit Jahrzehnten – österreichische Bahnen. In die Züge, welche bei Agendorf ins Land fuhren und dann über Ödenburg und Harkau bei Deutschkreuz Ungarn wieder verließen, konnte man nur in Österreich zusteigen oder aussteigen. Man nannte sie „Korridorzüge“. Mit viel viel Heimweh kämpfende Ausgesiedelte kamen 1948 nur deshalb ins Burgenland, um auf diesen wenigen Kilometern Bahnstrecke reisen zu können. Bei Agendorf drosselte der Zug die Geschwindigkeit. Es wurde gemunkelt, dass umso langsamer der Zug fuhr, umso mehr die Ausgesiedelten dem Lockführer zahlten. Außerhalb des Zuges lauerten natürlich überall Grenzwächter, wir standen außerhalb des Bahnkörpers und konnten nur winken. Viele, sehr viele, reisten deswegen sieben- achthundert Kilometer um für nur einige Sekunden ihre im Zug verborgenen Verwandten sehen zu können, das Dach ihres ehemaligen Hauses oder den Kirchturm des Dorfes. Am Anfang hielten wir so die Verbindung. Als es dann möglich wurde, wieder nach Ungarn zu Besuch zu kommen, durften die Verwandten auch noch lange nur nach Budapest reisen, weil wir im Grenzstreifen wohnten, wohin man nur mit einer Genehmigung durfte. In Budapest konnte ich dagegen meine alte Großmutter sehen.

Wie hat sich das kirchliche Leben verändert?

Von Rábahöz kamen zwar Evangelische, doch mit dem Wechsel der Einwohner ist die Zahl der bis zu diesem Zeitpunkt wenigen Katholiken mächtig gewachsen. Die Anzahl der ehemals 2.500 Evangelischen ist zusammengeschrumpft. Heute sind wir kaum zweihundert. Zur Zeit der Aussiedlung war Dr. Karl Pröhle unserer Pfarrer. Nach 1946 gab es auch schon ungarische Gottesdienste, dennoch war diese Zusammenkunft die Stelle, wo wir unsere Identität und Sprache bewahren konnten. Bei dem beliebten Pfarrer Bruno Foltin waren wir auch wenige, aber bis heute sind wir eine zusammenhaltende Gemeinschaft.

Im Jahr 1967 schließlich waren wir in Wandorf so wenige Evangelische, das wir unsere Kirche nicht erhalten und erneuern konnten. Die Stadt Ödenburg hat uns deswegen dazu verpflichtet, unsere Kirche mit der viel kleineren katholischen Schule zu tauschen. Von diesem Umzug wurde auch ein Film gedreht. Niemand hat uns geholfen, nicht staatlicherseits, nicht die Kirchengemeinde. Wir schafften selber alles hinüber, den Kirchturm, die Bänke, das Heizmaterial, alles, aber alles mit einem kleinen Karren. Wir bekamen ein altes Gebäude. Den Turm haben wir neu gebaut und aus eigener Kraft erneuerten wir die Schule. Jahrzehnte brauchte es, bis ein jeder dieses Gebäude auf dem Hajnal-Platz liebte, das sich heute schon als zu klein erweist. Noch oft ertappe ich mich selbst dabei, wie ich nicht von der Kirche spreche, sondern von der „Schule“.

Was für ein Zukunftsbild haben Sie, was da Überleben des Deutschtums betrifft?

Ich bin kein Pessimist. Hier, an der österreichischen Grenze werden die Menschen immer bestrebt sein, deutsch zu lernen und zu sprechen. Schon lange nehme ich an einem Projekt teil, welches die Nachkommen der Ausgesiedelten begannen. Als Ergebnis langjähriger Arbeit wurde noch vor kurzem eine digitale Landkarte, auf welcher die alten Wandorfer Häuser, die Namen der alten Bewohner und ihre Daten erscheinen. Zu betrachten ist das alles im Internet auf der Homepage www.oedenburgerland.de im "wandorf-Plan".

 

Andreas Böhm, sie waren drei Jahre alt, als das Dorf fast leer gemacht wurde. Erinnern sie sich noch?

boehm andreasKonkrete Erinnerungen habe ich kaum aber Traumbilder von diesen Tagen habe ich bis heute noch. Von Agendorf haben sie 1.430 Menschen fortgeschafft. Auf der Hauptstraße alle. Sie fehlten in der Landwirtschaft. Alles mussten sie zurücklassen: ihr Haus, ihre Felder, ihre Stallungen, ihre Tiere, ihre Möbel, ihre Kleider, ihr Geschirr. Alles. Nur ein kleines Bündel konnten sie mitnehmen.

Um es richtig zu sagen: das Dorf war leer. Wortwörtlich, alles war leer! Unsere mächtige, wunderbare Kirche, die evangelische Schule, von einem auf den anderen Tag verschwanden die Gesangsvereine und die anderen blühenden Vereine. Alles musste man umorganisieren und neu überdenken.

Die Dörfer wurden innerhalb von wenigen Tagen wieder bevölkert. Wie war das Zusammenleben zwischen den wenigen verblieben Deutschen und den neu angesiedelten Ungarn?

Nicht erst am Tage der Aussiedlung (im April) begann die Neubesiedlung, sondern schon im Oktober davor. Aus Rábahóz, Csorna und Umgebung brachten sie ungarische Familien. Man hat sie neben den Einheimischen angesiedelt. Auch das war keine einfache Geschichte. Stell dir vor, dass Du dein eigenes Haus, deine kleine Küche, dein einziges Zimmer – wo sowieso schon acht bis zehn Personen leben – mit einer anderen sieben-acht-Personen großen Familie teilen musst. Sie sagten, dass das halbe Jahr 1945 und 1946 aus siebenundsiebzig Wohnorten Siedler nach Agendorf kamen. Ich erinnere mich, dass die Hauptstraße komplett leer war, von dort haben sie alle vertrieben. All diese Häuser und Einrichtungen dort bekamen die Ungarn, von dort hörte man fortan kein deutsches Wort mehr.

Agendorf hatte das Glück – im Gegensatz zu den anderen Siedlungen – dass hier sehr viele Handwerker und Bergmänner, die man für den Aufbau nach dem Krieg in Ungarn brauchte, lebten. Sie konnten im Dorf bleiben und wurden nicht vertrieben. In der Berggasse, in der Bachgasse, in der Brennbergergasse und in der Györgygasse. Diese vier kleinen Gassen waren noch Jahrzehnte wie eine Familie. Meine Generation denkt heute noch dass es im Aufbau des Dorfes ein „Dorf“ und einen „Berg“ gibt. Im Dorf ist die gewundene Hauptstraße nur mit großen Häusern bebaut. Der Berg und die vier kleinen Gässchen mit ihren Bergarbeiter-Häuschen und mit ihrer viel ärmeren Gegend ist markant.

Wir auf dem Berg wurden wie eine große Familie. Fenster, Türen, Gartentor, alles war offen. In diesem Block, oben auf dem Berg, haben wir deutsch gesprochen. Wenn wir auf die Hauptstraße hinuntergingen, sprachen wir dort ungarisch. Wir waren in diesen kleinen Gassen eingesperrt. Abgesehen davon hatte es auch Vorteile. Von hier aus vom Berg konnte man die benachbarten österreichischen Dörfer sehen, aber für uns gab es kein Hinaus, kein herein. Viele belastete dieses eingesperrt-sein sehr. In den siebziger Jahren gab es bei den hiesigen alten Einwohnern sehr viele Selbstmorde. Nicht nur hier, sondern in der Siedlung in der Gegend, in Brennberg, am Bogenriegel und auch in Wandorf. Das verdiente an sich schon eine Untersuchung. Nach meinem Wissen hat sich niemand damit beschäftigt.

Mit großer Hochachtung schauten wir auf die, die auch in den schwersten Zeiten um die Kirche herum geholfen haben. Auch heute noch denken die Agendorfer mit Dank an Dr. László Pusztai und Ödön Weltler, welche uns lange Jahre, bzw. Jahrzehnte mit Liebe betreuten. László Pusztai erlebte mit uns die Schrecken der Ausweisung, in seiner Zeit wurde aus der Gemeinschaft von zweitausend evangelischen Gemeindemitgliedern – mit Brennberg zusammen –eine Gemeinsaft von kaum mehr sechshundert Personen. Als wir mit den Aussiedlungslisten und ihren unbarmherzigen Verordnungen konfrontiert wurden, hat unser Pfarrer den Zeitpunkt der Konfirmation vorgezogen. Sie sagen, es war eine schöne Feier. Ein paar Tage später, als die mit Blumen geschmückten Transporte der Auszusiedelnden vorbeifuhren, ertönten die Kirchenglocken.

1956 gab es wieder eine riesige Veränderung in der Kirchengemeinde. Zu dieser Zeit verließen wieder mehrere hundert Menschen das Dorf. In der Zwischenzeit sind einige evangelische, ungarische Familien zugezogen, aber wenn wir die Listen der Gemeinschaft betrachten, erscheinen immer noch überwiegend deutsche Namen darauf. Wie in Sopron und in Wandorf so auch bei uns, gibt es regelmäßige deutsche Gottesdienste, gelegentlich auch zweisprachige.